Renaissance-Verlag
- „Renaissance-Verlag“ Dr. Martin Brussot Verlag
- Renaissance-Verlag/Verlag der „Renaissance“
- Interterritorialer Verlag „Renaissance“ (Wien-Leipzig)
Es mag nicht verwundern, daß nach Ende des Weltkriegs und nach „Ausbruch des Friedens“ eine Reihe von Firmen das Wort „Renaissance“ in den Firmawortlaut aufnahmen. Es gab zumindest zwei Verlage und eine Zeitschrift, die dies taten.
„Renaissance-Verlag“ Dr. Martin Brussot Verlag (Wien-Leipzig-Berlin)[1]
Mitte Mai 1922 machte der am 19.2.1881 in Budapest geborene Schriftsteller Dr. phil. Martin Brussot die Korporation der Wiener Buch-, Kunst- und Musikalienhändler darauf aufmerksam,
daß ich unter der Firma „Renaissance-Verlag“, unterstützt durch reichsdeutsche Interessenten, einen neuen belletr. Verlag für gediegene Romanliteratur begründet habe. Dieser bringt neben meinen eigenen Werken (bisher Georg Müller Vlg etc.) solche erstrangiger deutscher Autoren, sodann Werke französischer, spanischer, portugiesischer und brasilianischer Meistererzähler, Literaturwissenschaftliches und Kunstdrucke. Hergestellt werden unsere Verlagswerke in Leipzig, München bzw. Berlin. Meine Vertretung übernimmt F. Volckmar in Leipzig.
Die ersten Werke erscheinen zu Pfingsten. (…)[2]
Eine Woche später (27.5.1922) wurde allerdings nun die Firma „M. Brussot Verlag“ bei der Korporation protokolliert. Fallengelassen wurde die Firmabezeichnung „Renaissance-Verlag“, desgleichen „Renaissance-Bücherei“. Übrig blieb ein „Selbstverlag“ zum Vertrieb eigener Werke in Wien 9., Pfluggasse 6, und hiefür bedurfte Brussot keiner Konzession. Doch als Korporationsmitglied war er beitragspflichtig.
Die Verlagsproduktion hielt sich in kleinen Grenzen: In den ersten fünf Jahren kamen zwei Werke Brussots heraus. Entsprechendes liest man in einer Mitteilung an die Korporation vom 19.11.1925:
Ich habe einen ganz, aber schon ganz kleinen Verlag von 2 Werken, edierte seit 3 Jahren nichts mehr u. setze so gut wie nichts ab.[3]
Mittlerweilen scheint die Firma 1925 im Adreßbuch des österreichischen Buchhandels als „Renaissance-Verlag, Verlagshandel für Belletristik und Literatur in Wien“ auf, sodaß es, wenn auch nur kurze Zeit, zwei nicht protokollierte Firmen mit ähnlichem Namen gibt.
Wiederum in Zusammenhang mit dem Jahresbeitrag der Korporation liest man in einem Schreiben vom 17.10.1927 zum Geschäftsgang folgendes:
Ich habe, wie Ihnen sicherlich bekannt ist, einen nur ganz kleinen Verlag, d.h. ich habe seit 5 Jahren (u.zw. 1922/23) bloß 2 Bücher herausgegeben, die mir nicht einen Groschen Profit einbrachten, dagegen aber ein beträchtliches Defizit verursachten. Reich ist so ein kleiner Verleger nun einmal nicht, der sich nebenher als freier Schriftsteller sein kärglich zugemessenes Brot erwerben muß. Glauben Sie mir, man ist nicht auf Rosen gebettet.[4]
Im November dieses Jahres kündigte Brussot im Börsenblatt ein neues Werk im Renaissance-Verlag an: Das Jordanwunder. Roman.[5] Die diversen Verlagswerke fanden nicht gerade reißenden Absatz, wie man folgender Bemerkung Brussots in einem Schreiben vom 19.11.1928 entnehmen kann:
Mein Umsatz jährlich beziffert sich auf ein paar Schilling; im großen und ganzen wird draufgezahlt.[6]
Kurze Zeit darauf, nämlich am 2. Jänner 1929, stellte der „Renaissance-Verlag“ seinen „Betrieb“ ein. Dazu Brussot an die Korporation:
Da sich mein Verlag leider nicht verlohnt, sehe ich mich genötigt ihn aufzugeben und aus der Korporation auszuscheiden. Den noch von mir geschuldeten Betrag werde ich mir erlauben in monatl. Zahlungen an die gesch. Korporation zu begleichen. (…)[7]
So weit der Selbstverlag namens „Renaissance-Verlag“.
Renaissance-Verlag/Verlag der „Renaissance“
Auch ein Zeitschriftenverlag der jungen Republik trug den Namen „Renaissance“. Wie im Fall anderer Verlage, z.B. „Verlag ,Die Fackel““, „Verlag ,Der Friede““, „Verlag der Wiener Weltbühne“ usw. war der Firmaname mit dem Zeitschriftentitel identisch. Sitz dieser „Firma“ war Wien 3., Ungargasse 3. Herausgeber der Halbmonatsschrift Renaissance, die erstmals Mitte März 1921 erschien, war Stephan Hartenstein. Eingestellt wurde die Zeitschrift, deren Umfang zwischen 12 und 20 Seiten schwankte, im selben Jahr, und zwar mit Nr.10, dem 2. September-Heft. Mit neuem Format (A 4) e
rschien sie neuerlich ab 13. Oktober 1923 als Die Kritik. „II. Jahr der ,Renaissance““, allerdings ohne Verlagsangabe. Eigentümer und Herausgeber war wiederum Stephan Hartenstein. Die Kritik stellte mit Nr. 3/4 vom 5. November 1923 ihr Erscheinen ein.
Interterritorialer Verlag „Renaissance“ (Wien-Leipzig)[8]
Die „Geschichte“ dieses Unternehmens hat alle Ingredienzien eines Thrillers: Medienjustiz, Selbstmordversuche, Auftritte bei Gericht, Namensverwirrung usw. Sie beginnt im Jahre 1920. Der Wiener Hauptakteur heißt Davis bzw. David bzw. Lucian Frank Erdtracht. Er wurde am 9. Oktober 1894 in Klubowce, Polen, geboren, organisierte die erste zionistische Studentenverbindung in Wien, absolvierte die Hochschule für Welthandel in Wien, besuchte die Exportakademie und diente im Ersten Weltkrieg als jüdischer Frontoffizier, danach in der Reserve. Aus seiner Erfahrung heraus schrieb er die Broschüre Die Juden im Weltkriege.
1920 gründet Davis alias David Erdtracht in Wien einen Verlag. Er verlegt zunächst Werke zionistischen Inhalts und zeichnet z.B. als Herausgeber der zweibändigen Geschichte des Zionismus von Nahum Sokolow. Im selben Jahr gibt Erdtracht eine 7bändige Reihe mit dem Titel An der Schwelle der Wiedergeburt heraus (Beispiel: Palästina. Das Land der jüdischen Gegenwart und Zukunft). Die erste Folge hat folgendes Impressum: „Im Verlag ,Wiedergeburt“. – Hochschule für Welthandel, Wien-Döbling“, während eine weitere Folge eine andere Formulierung aufweist: Interterritorialer Verlag „Wiedergeburt“, Wien-Berlin-Warschau-London-New York (!).
Ein erster Versuch, sich branchenmäßig zu etablieren, erfolgt im November 1920: ein Druckereibesitzer namens Ignaz Citron – er druckt die frühen Werke Erdtrachts – sucht bei der Korporation um Verleihung einer Konzession zum Betrieb eines Verlags am Sitz seiner Firma an. Die neue Firma soll nun „Interterritorialer Verlag Renaissance („Wiedergeburt“) heißen. Die Konzession wird aber offensichtlich nicht verliehen. 1921 unternimmt Davis Erdtracht den ersten seiner Selbstmordversuche: er versucht sich mit Leuchtgas zu vergiften. Zwei Jahre später wird er es mit Lysol probieren.
Mittlerweile entpuppt sich der „Renaissance-Verlag“ als eine multinationale Firma, als Ableger des „Interterritorialen Verlags“ bzw. des „Interterritorial Publishing Concern“ mit Sitz in Berlin, Warschau, London, New York und last, but not least: Wien. Derselbe Davis bzw. David Erdtracht bzw. Lucian Frank Erdtracht in Wien dürfte aber nebenbei einen weiteren Verlag geführt haben. Er nennt sich (nomen es Omen!) „West-Ost-Verlag“ mit Sitz in Leipzig und Wien. Äußeres Zeichen für dessen Existenz: 1922 erscheint ebendort Robert Müllers Flibustier. Später wird das Signet mit Interterritorialer Verlag Renaissance überklebt9.[9]
Am 15. Juli 1922 erfolgte die Inkorporation der Firma Interterritorialer Renaissance-Verlag Davis Erdtracht. Wenig später richtete der Alleininhaber dieser Firma ein Schreiben an das Mag. Bezirksamt f. d. 1. Bezirk mit der Bitte um Verleihung einer Konzession zum Verlage von Büchern, Musikalien und Kinowerken im Standort 1., Johannesgasse 14. Er begründete sein Ansuchen folgendermaßen:
Ich bin Mitinhaber eines Verlagsgeschäftes, welches unter der Firma „Renaissance-Verlag“ in Polen, Deutschland, Ungarn, Rumänien und Amerika tätig ist. Unser Verlag hat eine Reihe von guten Büchern in deutscher und polnischer Sprache herausgegeben und die hervorragendsten Autoren verkauften uns ihre Werke. Hans Heinz Evers (sic), Nossig, Kaiser, Andrejew, Miljukow, Tolstoj, Nordau und viele andere haben ihre Werke in unserem Verlage herausgegeben.
Aus verschiedenen Gründen sehe ich mich nun veranlaßt in Wien einen selbständigen Verlag zu gründen und dessen Wirkungskreis dahin auszudehnen, daß ich auch den Vertrieb von Theater- Musikalien- und Kinowerken einführen würde.
Ich bin selbst Schriftsteller und die von mir bis heute herausgegebenen Werke hervorragender Autoren, die mit mir in ständigem Kontakte verbleiben, wie auch die vielen Werke, die bereits gedruckt werden und demnächst noch unter der alten Firma erscheinen werden, sind ein genügender Befähigungsnachweis für meine Berufstätigkeit. [10]
In ihrer Stellungnahme vom 26. August 1922 fühlte sich die Korporation veranlaßt, sich gegen die Erteilung der nachgesuchten Verlagskonzession unter dieser Firmabezeichnung auszusprechen, und zwar „mit Rücksicht auf die mehrfache Verwendung des Namens ,Renaissance-Verlag“, die im Buchhandel zu vielfachen Irrtümern führt“. Und außerdem:
Dadurch, daß der Konzessionsansucher David Erdtracht bereits Mit-Inhaber eines Verlags-Geschäftes ist, ist die Notwendigkeit nicht gegeben ein eigenes Verlagsgeschäft hier in Wien zu errichten, das dieselben Zwecke verfolgt wie das z.B. in Deutschland bestehende an dem er Mit-Inhaber ist.[11]
Erdtracht kam doch noch zu seiner Konzession. Es dürfte ein Kompromiß dahingehend erreicht worden sein, daß das Wort „Renaissance“ an dritter Stelle aufschien.
Im Oktober desselben Jahres wurde die Ost-West-Linie konsequent fortgeführt, denn in diesem Monat erschien die allererste Nummer einer neuen periodischen Druckschrift, die Der Osten betitelt wurde. Diese „einzige Zeitung in deutscher und polnischer Sprache“ wurde vom „Chefredakteur“ Lucian Frank Erdtracht betreut. Der Eigentümer hieß David Erdtracht. Der Osten verstand sich als „Verständigungsorgan zwischen dem Westen und dem neuen Polen“, als „das geeignetste Vermittlungsorgan zwischen Osten und Westen“. Die Zeitung hielt sich nur sehr kurz: höchstwahrscheinlich sind nicht mehr als fünf Folgen erschienen.
Aber bereits zu dieser Zeit hatte der Interterritoriale Verlag „Renaissance“, worauf das vorhin zitierte Ansuchen hindeutet, ein umfangreiches Programm: eine Verlagsanzeige im Osten zeigt vierzig Werke in polnischer Übersetzung, darunter 4 Werke von Leo Perutz, 4 von Gustav Meyrink, 2 von Arthur Schnitzler, 2 von Gerhart Hauptmann, 4 von Jakob Wassermann, 2 von Hans Heinz Ewers, 3 von Albert Einstein, 1 von Hermann Hesse (Demian), 1 von Thomas Mann, 2 von Oskar Wilde und 1 von Hugo Bettauer (Die Stadt ohne Juden). Daneben finden sich 38 Werke in deutscher Sprache. Die Produktion der folgenden Jahre zeigt ein eindeutiges Übergewicht bei Übersetzungswerken, d.h. Übertragungen aus einer Fremdsprache ins Deutsche. Und in dieser Hinsicht zeigen sich Parallelen zum „Wiener Verlag“ des Fritz Freund zwei Jahrzehnte zuvor. Das lag einmal an den für den österreichischen Buchhandel zu dieser Zeit erstaunlich hohen Auflagenzahlen und einmal an der Tatsache, daß es Erdtracht mit autorisierten Übersetzungen und der Erwerbung der Zustimmung des übersetzten Autors nicht sonderlich genau nahm. Ein solcher Betroffener, Gustav Meyrink, erhob gegen Erdtracht den Vorwurf, seine Bücher unbefugt in polnischer Sprache herausgegeben zu haben. Es war aber ein zweiter Fall, der die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf David bzw. Lucian Frank Erdtracht und den Interterritorialen Verlag „Renaissance“ lenkte. Erdtracht machte viel von sich reden, als er plötzlich mit einem berühmten Buch auf den Markt kam. In Paris hatte es La Garçonne von Victor Margueritte zu einer hohen Auflagenziffer gebracht; der Roman galt als der meistgelesene des Jahres.
Man betrachtete es als besondere Geschicklichkeit des Renaissance-Verlages, daß es ihm gelungen war, vor allen anderen deutschen Verlegern diesen Roman zu erwerben und so rasch in den Handel zu bringen. Aber kurze Zeit, nachdem der Roman in deutscher Sprache erschienen war, meldete sich bereits Paul Margueritte und teilte mit, daß er von einer rechtsmäßigen Überlassung seines Romanes „La Garçonne“ an den Renaissance-Verlag nichts wisse, daß ein Vertreter dieses Verlages niemals mit ihm verhandelt habe, und daß die Übersetzung unrechtmäßig erfolgt sei.[12]
Der Pariser Verlag Ernst Flammarion pochte auf seine Rechte, die übrigens dem Karl Schusdek Verlag in Wien zugesprochen worden waren, und strengte gegen David Erdtracht eine Urheberrechtsklage an.
Der Schöffensenat, vor welchem die Klage verhandelt wurde, sprach Erdtracht des bewußten und unbefugten Eingriffes in das Urheberrecht schuldig und verurteilte ihn zu vier Millionen Kronen Geldstrafe, im Nichteinbringungsfalle zu zehn Tagen Arrest. Der Gerichtshof erkannte auf den Verfall der Bücher, wo immer sie vorgefunden werden. Außerdem wurde der Angeklagte zu einer Geldbuße von vier Millionen Kronen und zur Entrichtung eines Schadenersatzbetrages von zwanzig Millionen Kronen an den Pariser Verlag verurteilt. Mit den weiteren Ansprüchen wurde der Verlag auf den Zivilrechtsweg verwiesen.[13]
Trotz der saftigen Strafe war Erdtracht geschäftstüchtig genug, um aus der Not eine Tugend zu machen und doch noch auf der Margueritte-Erfolgswelle zu reiten. Er bot einen Ersatz an und führte im Anzeiger 1924 eine wochenlange Polemik mit seinem Wiener Kontrahenten Karl Schusdek. Im Mai 1924 warb er mit dem Köder „Konfisziert und wieder freigegeben“, was zu allen Zeiten verkaufsfördernd gewesen ist. Das Werk war eine La Garçonne-Parodie von Hans Reimann, und deren Auflage wurde sehr bald mit 80.000 angegeben. Nichtsdestotrotz vergaß man in späteren Jahren diese Erdtracht-Affäre nicht. Ende 1925 schien das Verlagsgeschäft an einen Tiefpunkt gelangt zu sein. Erdtracht war u.a. nicht in der Lage, den Angestellten ihre Gehälter zu zahlen, der Interterritoriale Verlag „Renaissance“ war überschuldet, die Passiva betrugen nach eigener Darstellung S 134.845.68, die Aktiva S 112.100.17.[14] Doch die Forderungen der 57 Gläubiger, von denen die meisten kleinere Buchdruckereien waren, waren wesentlich höher. Erdtracht bot in seinem Ausgleichsantrag vom 15. Dezember eine Ausgleichsquote von 50%. Darauf schlagzeilte Die Stunde den „Zusammenbruch eines Wiener Buchverlages“ (20.1.1926, S. 6) und bekam postwendend eine Zuschrift von D. Erdtracht mit dem Ersuchen, „auch seine Stimme zu hören“. Hier seine „Stimme“, die für die Verlagsgeschichte nicht uninteressant ist:
Der Renaissance-Verlag ist trotz des Ausgleichsansuchens nicht zusammengebrochen; er besteht und wird weiter bestehen. Da ich imstande war, innerhalb kurzer Zeit einen angesehenen Verlag unter Mitwirkung namhaftester Autoren zu gründen und zu entwickeln, wäre es mir nicht schwer gefallen die jetzigen schwierigen Verhältnisse im Buchgewerbe zu überwinden. Aber die Verfolgungen und Verhetzungen, denen ich (…) ausgesetzt war, haben meine Nerven zerrüttet, meine Arbeitslust untergraben, mein Werk, wenn nicht zerstört, so doch gestört. Ich habe mich nur nach langem inneren Kampf entschlossen, um den Ausgleich anzusuchen. Ich will die Lage meines Verlages klären und nach Bestätigung des Ausgleiches nicht nur die angebotenen 50%, sondern auch die restlichen 50% in absehbarer Zeit bezahlen. (ebda., 22.1.1926, S. 6)
Am 11. März 1926 wurde der 50%ige Ausgleich im Verfahren beim Handelsgericht bestätigt. Doch der finanzielle Aderlaß und eine Pressekampagne von bestimmten Lagern führten dazu, daß das Geschäft nicht mehr anlief. Kaum hatte sich Erdtracht finanziell und psychisch von diesem Rückschlag erholt, als er durch Revolverjournalismus zum Äußersten getrieben wurde.
Am 4. Juni 1926 begann das berüchtigte Revolverblatt Der Abend, das – laut Motto – wenn es Stärkere gab, sich immer auf der Seite des Schwächeren befand, seine Berichterstattung über „Das Geheimnis der jungen Menschen, die in Wien verschwinden“. Es sei dem Abend nämlich gelungen, den „Freund“ eines der „letztverschwundenen“ Burschen, eines 16jährigen Friseurlehrlings, ausfindig zu machen. Diesem „Freund“ wurden vom Abend intime Beziehungen mit dem Burschen vorgeworfen. Und die sensationelle Enthüllung gibt es auf der ersten Seite: „Es ist jener Erdtracht, dessen Name der Öffentlichkeit bekannt wurde, als die Schmutzereien des von ihm gegründeten und geleiteten ,Renaissanceverlages“ aufkamen“.[15] Fazit: zwischen beiden muß „ein sehr intimes Verhältnis geherrscht haben“. Auch am nächsten Tag wurde berichtet. Diesmal wurde die Polizei in sprichwörtlicher Abend-Manier aufs Korn genommen, weil sie von einer Verbindung zu Erdtracht nichts wußte und eine solche auch nicht nachweisen konnte. Der Abend ließ nicht locker: die Kampagne gegen Erdtracht wurde in der nächsten Woche fortgesetzt. Nun durfte der Vater des Verschwundenen im Abend „auspacken“. Der Abend setzte sich auch mit einem Bericht auseinander, der in dem weniger auf Sensationen ausgerichteten Neuen Wiener Journal erschienen war: „Eine Lüge und ihre Widerlegung“. Die Lüge bezog sich freilich auf das Neue Wiener Journal. Am 9. Juni erschien ein großer Bericht auf S. 3 unter der Überschrift „Der Verleger Frank Erdtracht kündigt Selbstmord an. Motiv: Verleumdung durch den ‚Abend““. In der Stunde heißt es: „Das Verschwinden des Verlegers Erdtracht. Man befürchtet, daß er Selbstmord begangen habe“ (10.6.1926, S. 4). Tatsächlich hat Erdtracht – im NWJ heißt er „Lucian Frank“, in der Stunde hingegen „David“ – überall persönliche Abschiedsbriefe abgegeben und ähnliche Schreiben an eine ganze Reihe von Zeitungsredaktionen geschickt.
Der Verleger Lucian Frank Erdtracht, der Inhaber des Renaissanceverlages, hat gestern an die Redaktion unseres Blattes ein Schreiben gerichtet, worin er seinen Entschluß mitteilt, durch Selbstmord aus dem Leben zu scheiden. Erdtracht bezeichnet sich in seinem Abschiedsbrief als Opfer des „Abend“, der ihn durch eine Verleumdungskampagne in den Tod getrieben habe. Der Abschiedsbrief Erdtrachts hat folgenden Wortlaut:
Wien, 8. Juni 1926
Hochverehrte Redaktion!
Wenn Sie diese Zeilen lesen, habe ich vom Leben Abschied genommen. Gestatten Sie mir nur einige Worte, für die ich Kraft noch finde.
Man soll meinen Schritt nicht mißverstehen. Ich habe gewartet, daß die Polizei einwandfrei feststellen konnte, daß an den unerhörten, verlogensten Angriffen des „Abend“ kein Wort wahr ist. (…)
Ich habe nie den Mut verloren! Da kam der „Abend“. Seine wiederholten Angriffe haben mich nie gestört. Sie waren auf Lüge, organisierter Hetze aufgebaut. Die Angriffe – waren politischer und geschäftlicher Natur.
Aber der letzte persönliche Angriff vorige Woche hat mein Innerstes zerstört, mein Wesen ruiniert. Lüge, Lüge und nur Lüge! – in jeder Zeile des „Abend“. Mein Gefühlsleben und Gesellschaftsleben hat der „Abend“ zerstört – der Sensationsgier, der Scheinmoral wegen. (…)
Erdtracht.
Am 10. Juni schließlich wußte man mehr:
SELBSTMORDVERSUCH DES VERLEGERS FRANK ERDTRACHT Mit einer Schußwunde am linken Oberarm aufgefunden. (Orig.-Bericht des NWJ) (10.6.26, S. 5)
Erdtracht wurde in der Nähe der Urania, einen Trommelrevolver in der Hand, verletzt aufgefunden und in die Unfallstation gebracht. Sein Zustand war nicht gefährlich.
Die Polizei vermochte noch immer nicht – trotz des Abends – den verschwundenen Burschen mit Erdtracht in Verbindung zu bringen, aber Der Abend hatte wieder einmal sein Ziel erreicht. Dazu der hämische Kommentar dieses Blattes
(„Die Verletzung des Herrn Erdtracht“):
Nach dem Gutachten der behandelnden Ärzte ist die Verletzung des Herrn Erdtracht eine leichte. Der Knochen ist unversehrt und auch von einer ernsten Fleischwunde kann keine Rede sein. In einigen Tagen wird die Schramme geheilt sein. (10.6. 1926, S. 2)
Und damit hörte die Berichterstattung im Abend über Erdtracht auf. Die Episode brachte aber zugleich die Ausgleichszahlung ins Wanken:
Der zweite Grund ist der Umstand, daß ich infolge meines Falles, der durch die Angriffe des „Abend“ verursacht wurde, derart gesundheitlich herabgekommen bin, daß ich in den letzten Monaten vollständig arbeitsunfähig war und wäre ohne Hilfe meiner Freunde über die alltäglichen Sorgen kaum hinweggekommen.[16]
So weit Erdtracht an seine Gläubiger im Oktober 1926. Während seiner langen Abwesenheit von Wien wurden von der Korporation der Wiener Buch-, Kunst- und Musikalienhändler allerlei Schritte unternommen, um Erdtracht und seinen Verlag in Mißkredit zu ziehen: es wurde beim Börsenblatt protestiert, Anzeige erstattet; im Anzeiger wurden Gerüchte kolportiert, wonach ein Konkursantrag gegen Erdtracht abgewiesen worden wäre. Fazit Erdtrachts:
Ich habe demnach den Eindruck, daß die Korporation der Buch-, Kunst- und Musikalienhändler in Wien von irgendeiner Seite, planmäßig gegen mich aufgehetzt wird und jedenfalls über meine Verlagstätigkeit falsch informiert ist.[17]
Der Interterritoriale Verlag „Renaissance“ trat als eigener Verlag nicht mehr in Erscheinung. Es wurde in Wien lediglich die Vertretung des Verlages Interterritorial Wydawinczy „Renaissance“ Warschau geführt. Nach 1930 dürfte Erdtracht Wien verlassen haben. Über sein weiteres Schicksal konnte nichts in Erfahrung gebracht werden.
Die Produktion
Als im Interterritorialen Verlag „Renaissance“ lang nichts mehr erschienen war, schrieb Erdtracht im bereits zitierten Brief vom 14.4.1927 an die Korporation folgendes in eigener Sache:
Ich gestatte mir noch darauf hinzuweisen, daß ich bis heute zka 200 Werke in deutscher und polnischer Sprache herausgegeben habe, und zwar in einem Zeitraume von 4 Jahren und daß die bedeutendsten deutschen Autoren, wie: Hauptmann, Schnitzler, Wassermann, Thomas Mann usw. in mir den Propagator für die Übersetzung ihrer Werke in die polnische Sprache gefunden haben. Dies in einer Zeit, wo der Deutschenhaß in Polen in höchster Blüte stand.
In einer Verlagsanzeige von 1923 waren bereits 77 (lieferbare) Werke verzeichnet. Es scheint daher sehr fraglich, ob der Verlag bis Ende 1925 – in diesem Jahr erschienen die letzten Bücher – tatsächlich und insgesamt an die 200 Werke herausgab.
Obwohl der Verlag das Schwergewicht auf deutsche Übersetzungen fremdsprachiger Werke legte (z.B. Julius Slowacki, Claude Farrére, D’Annunzio, Upton Sinclair, Alexander Kuprin, E.A. Poe, Paul Bourget, Georges Duhamel etc.), waren auch deutsche und österreichische Autoren vertreten: Adolf Gelber, Carl Julius Haidvogel, Heinrich Husserl, Paul Frank, Hans Liebstöckl, Alfons Petzold, Johann Nestroy, Robert Müller, Lothar Ring, Richard A. Édon, Georg Kaiser, L.W. Rochowanski, Kurt Sonnenfeld u.a.
Die sehr aggressive Verkaufswerbung erinnert stark an die des „Wiener Verlags“. Frappierend sind, wie bereits erwähnt, die hohen Auflagen, die der Verlag in Anzeigen auch werbewirksam einzusetzen wußte, wenn man z.B. Richard A. Édons „Roman der Gegenwart“ Rausch, dessen Startauflage 40.000 Exemplare betrug oder Alexander Kuprins Jama, Die Lastergrube (Auflage über 70.000) als Beispiele heranzieht.
Anmerkungen
[1] Quellenhinweis: Akt Gremium/Renaissance-Verlag.
[2] Schreiben Dr. Martin Brussot vom 16.5.1922, ebenda.
[3] Gremium/Renaissance-Verlag. Bei diesen zwei Verlagswerken handelt es sich um: Landstörz Wenzel Nazdaryk. Roman und Die Stadt der Lieder. Roman (zuerst Leipzig 1913).
[4] Akt Gremium.
[5] Nr. 270, 21.11.1927, S. 11314. Das Werk scheint im DBV nicht auf.
[6] Schreiben im Akt Gremium/Renaissance-Verlag.
[7] Ebenda.
[8] Hauptquelle: Akt Gremium/Interterritorialer Verlag ,Renaissance‘.
[9] Dazu LUCIAN FRANK ERDTRACHT, Der Verleger. Aus meinem letzten Gespräch mit Robert Müller. In: Der Blaue Bücherkurier (Wien), XXXV. Jg., Nr. 556, 15.9.1924, S. 2: „(…) Robert Müller lernte ich als Verleger seines Romans ,Flibustier‘, seines letzten kennen. Zu jener Zeit war er noch obdachlos, das heißt ohne jede Stütze. Er kam zu mir fast jeden Tag und wir plauderten über Schriftsteller, Verleger und Bücher.“
[10] Akt Gremium. Zitiert nach einem Schreiben des MBA I an die Korporation.
[11] Akt Gremium.
[12] Die Stunde (Wien), 20.1.1926, S. 6.
[13] Anzeiger, Nr. 41, 10.10.1924, S. 470.
[14] Quelle: Ausgleichsantrag David Erdtracht im Akt Gremium. (Handelsgericht Wien. Ausgleich. Sa 1623/25; der Akt war im Bestand der WrStLa leider nicht vorhanden.)
[15] Der Abend (Wien), 12. Jg., Nr. 126, S. 1.
[16] Rundschreiben Erdtrachts Mitte Oktober 1926 an die diversen Gläubiger. (Akt Gremium)
[17] Schreiben vom 14.4.1927. Zur Person des Verlegers soll auf Grund einer Meldeauskunft des WrStLa vom 29.3.1983 folgendes nachgetragen werden: der polnische Staatsbürger David Erdtracht meldete sich im November 1928 ins Ausland ab. Er scheint 1929 einmal wieder auf, verließ Wien, hat sich aber nicht offiziell abgemeldet. Da ein „Lucian Frank“ Erdtracht nicht ermittelt werden konnte, liegt der Schluß nahe, daß David Erdtracht sich diesen Namen zulegte. In den 20er Jahren bis Anfang der 30er Jahre ist ein „Hochschüler“ bzw. Verleger Ludwig E. in Wien gemeldet gewesen. Sein ordentlicher Wohnsitz war Paris, und er meldete sich im Juli 1931 nach Stanislau, Polen ab.
[18] RICHARD KOLA, Rückblick