Verlag der „Tagblatt-Bibliothek“ (Steyrermühl-Verlag) (Leipzig- Wien-Berlin) [1]
Die Steyrermühl Papier- und Verlagsgesellschaft, von der die Tagblatt-Bibliothek eine Art Abteilung war, wurde 1872 von August von Barber und Moritz Szeps gegründet. Sie war eine Aktiengesellschaft zum Betrieb der Papierfabrikation, des Druckgewerbes und zur Ausübung des Verlagsgeschäftes, insbesondere zur Herausgabe periodischer Druckschriften. Die Buch- und Kunstdruckerei befand sich (zunächst) in Wien 6., Gumpendorferstraße 42, die Papierfabrik in Steyrermühl bei Gmunden in Oberösterreich. Steyrermühl trat als Verleger einer Reihe von bedeutenden Zeitungen hervor, wie z.B. des Neuen Wiener Tagblatts (gegr. 28.2.1867; 1. Nummer: 10.3.1867) und des Neuen Wiener Abendblatts (1. Nummer: 26.12.1868).
Als die Tagblatt-Bibliothek des Steyrermühl-Verlags im Frühjahr 1923 ins Leben gerufen wurde, sollte gewissermaßen als Verlagsprogramm die zahllosen Gesetzesänderungen der Nachkriegszeit dem breiten Publikum durch Kommentare leichter zugänglich gemacht werden. So erschienen in der Tagblatt-Bibliothek u.v.a. Werke wie das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch für Österreich, das Angestellten-Versicherungsgesetz, die neue österreichische Bundesverfassung, Werke über Ehe und Scheidung, Arbeitsrecht. Und als besonderer Kundendienst erwarb jeder Käufer dieser Rechtsbücher den Anspruch auf kostenlosen Bezug von Nachträgen bei Änderungen des Gesetzes oder einzelner wichtiger Stellen.
Der große Erfolg der etwa im Februar 1923 initiierten Tagblatt-Bibliothek bewog zur Fortsetzung der Serie, und mit der fortschreitenden Entwicklung der Reibe hielt auch die buchtechnische Ausstattung Schritt. Zum Erfolgsrezept der Tagblatt-Bibliothek zählte freilich neben dem Inhalt und dessen besonderer Aufbereitung der Preis. Daher lautete das Motto: „Für alle verständlich. Für jeden erschwinglich“. Der Absatz, der ursprünglich nur in Wien oder Österreich erzielt werden sollte, erfolgte nach und nach in allen deutschsprachigen Ländern. Darüber hinaus konnte der Verlag der Tagblatt-Bibliothek mit Stolz darauf hinweisen, daß seine Hefte als Unterrichtsbücher an amerikanischen Universitäten Verwendung fanden. Die Tagblatt-Bibliothek wurde natürlich oft als österreichisches Pendant zu Reclam bezeichnet. Ihre Hefte hatten aber – soweit der Vergleich zulässig ist – einen Preisvorteil: sie waren um einige Groschen billiger als die Reclam-Bändchen (52 vs. 70 Groschen pro Nummer) und umfaßten ein viel weiteres Spektrum. Nach dem Selbstverständnis der Tagblatt-Bibliothek wollte man ganz allgemein „Bücher des praktischen Lebens“ produzieren:
Das alles sind Bücher des Lebens, die belehren, Wege weisen, helfen, für den Daseinskampf rüsten. Sie wenden sich nicht an den Fachmann.[2]
Im Jahre 1933 feierte der Steyrermühl-Verlag „Zehn Jahre Tagblatt-Bibliothek“, wobei in der Bilanz Grundsätzliches festgehalten wurde:
Nicht als Modeschlagwort einer gefährlichen Autarkie, als Zeichen bewußten vaterländischen Stolzes sei unser Wunsch für heute und immer ausgesprochen: österreichische Autoren eines österreichischen Verlages durch den österreichischen Buchhandel in die Welt zu tragen! [3]
Im Vorwort zum Jubiläums-Bücher-Verzeichnis vom Februar 1933 liest man etwa:
Ein Buchverlag unterscheidet sich von allen andern Handelsunternehmungen durch seine enge Verbundenheit mit dem Geistigen. Nur ein Verlag, der den Geist seiner Zeit erfaßt, wird daher jene Aufmerksamkeit für seine Erzeugnisse finden, die Vorbedingung für sein wirtschaftliches Leben ist. Der Geist unserer Zeit geht geradewegs auf das Notwendige los. Was heute verlangt wird, ist nicht die Vertrautheit mit allen möglichen Problemen – Bildung um jeden Preis – , sondern die Kenntnis jener Probleme, die den einzelnen gerade angehen. Damit war unsre Aufgabe in großen Zügen umrissen. Wenn wir bestehen wollten, hatten wir das praktische Buch zu pflegen, das Buch des täglichen Lebens, das Buch, das berät, belehrt, Wege weist, Fähigkeiten entwickelt und für den Daseinskampf in seinen unzähligen Formen besser vorbereitet. Ein Blick in unser Verzeichnis zeigt die Größe unsres Arbeitsgebietes, die Vielfalt der Stoffe, die für den Durchschnittsleser verdaulich gemacht werden mußte.
Bis 1933 hatte man 412 Werke, auf insgesamt 965 Nummern aufgeteilt, herausgegeben: [4] „In unübersehbarer Reihe schließen sich die schmucken Bändchen aneinander. Sechs Millionen Nummern – eine stattliche Kolonne, die, habt-acht gestellt, etwa von Wien bis Mödling reichen würde. Wieviel Wissen und Gelehrsamkeit, wieviel Können, Bildung, Anregung ist darin umschlossen!“ [5] Zur Feier des l0jährigen Bestandes wurde das tausendste Bändchen aufgelegt. Das vorhin erwähnte Jubiläums-Bücher-Verzeichnis schlüsselte die Produktion der Tagblatt-Bibliothek in viele Bereiche auf:
Operntexte
Oratorien, Messen, Symphonien
Das Reich der Frau, Heilkunde und Schönheitspflege
Kinder- und Jugendbücher
Rätselbücher und Spielregeln
Sport, Tanz und Lied
Fremdsprachige Literatur
Technik, Radio und Landwirtschaft
Gesetze und Verordnungen
Kaufmännische und andere Spezialbücher
Geschichte und Kunstgeschichte
Reisebeschreibungen
Novellen, Romane, Erzählungen und Dramen
Leiter der Tagblatt-Bibliothek zur Zeit des Jubiläums – genau genommen seit März 1931 – und bis zum „Anschluß“ war der am 17.1.1896 geborene Verleger Ernst Pisko. Pisko wurde ohne Anerkennung des gesetzlichen Abfertigungsanspruchs am 29. April 1938 von Steyrermühl als Jude fristlos entlassen. Er verließ das deutsche Reichsgebiet am 15. Juli 1938. Mehr noch: er wurde mehrmals verhaftet und interniert, doch dürfte ihm 1939 die Flucht nach England gelungen sein. [6] Sein weiteres Schicksal ist nicht bekannt.
Das Vorhaben der Tagblatt-Bibliothek, österreichische Autoren eines österreichischen Verlags durch den österreichischen Buchhandel in die Welt zu tragen, wurde besonders auf dem Gebiet der Belletristik verwirklicht. Auf diesem Gebiet erschienen in den ersten zehn Jahren der Tagblatt-Bibliothek über 120 Werke. Gepflegt wurden neben „Klassikern“ wie
Büchner, Goethe, Grillparzer, Hauff, E.T.A. Hoffmann, Keller, Kleist, Kürnberger, Nestroy, Ed. Pötzl, Raimund, Rosegger, Schiller, Sealsfield, Stifter und fremdsprachigen Autoren wie
Balzac, Barbusse, Daudet, Galsworthy, Gautier, de Maupassant, E.A. Poe, R.L. Stevenson, P. Mulford, A. Trollope, Tschechow, Whitman, O. Wilde
besonders „moderne“, in der Regel österreichische Autoren, und zwar in einem Ausmaß, das nicht immer von anderen, rein belletristischen österreichischen Verlagen übertroffen wurde. Hierunter befinden sich 1923-33 u.a. folgende Autoren:
R.H. Bartsch, Gisela Berger, M. Brociner, P. Busson, F. Dörmann, A. Engel, L. Fischmann, M. Hartwich, Rud. Hawel, Frank Heller, Hella Hofmann, R. Hohlbaum, Ed. Kapralik, Rud. Kraßnigg, Rud. Jer. Kreutz, S. Loewy, Fr. Molnár, K. Schönherr, Maria Stona, K.H. Strobl, F. Stüber-Gunther, Rud. Stürzer, Erwin Weill.
Auf dem Gebiet der fremdsprachigen Literatur fanden neben Lehr- und Wörterbüchern die „Zwei-Sprachen-Bücher“ großen Anklang. Zur Auswahl standen Englisch-Deutsch, Esperanto (!) – Deutsch, Französisch-Deutsch, Italienisch-Deutsch und Spanisch-Deutsch.
Bis zum „Anschluß“ kletterte die Zahl der Nummer der Tagblatt-Bibliothek auf über 1200 Mit dem „Anschluß“ mußte der Steyrermühl-Verlag samt Buch- und Kunstdruckerei arisiert und zwangsverkauft werden; er ging an die „Ostmärkische Zeitungsgesellschaft K.G.“, sodaß die Tagblatt-Bibliothek nun in diesem Verlag weiter erschien. 1945, nach Ende des Kriegs, mußten die Steyrermühl-Druckereien aus staatspolitischen Gründen auf zehn Jahre an den von der Kommunistischen Partei Österreichs betriebenen Globus-Verlag verpachtet werden. Auf diese Art und Weise „erbte“ der Globus-Verlag einen Teil des berühmten „Tagblatt-Archivs“. Im Globus-Verlag wurde die Tagblatt-Bibliothek eine Zeitlang fortgesetzt.
Anmerkungen
[1] Die Materiallage für diesen Abschnitt ist nicht allzu umfangreich, doch genügen die Unterlagen, um sich ein Bild der Tagblatt-Bibliothek zu machen. Literaturhinweise: Jubiläum der Tagblatt-Bibliothek. In: Anzeiger, 74. Jg., Nr. 9, 4.3.1933, S. 39 und ebda., ,1923-1933. Zehn Jahre Tagblatt-Bibliothek“, S. 40; Neues Wiener Tagblatt, Lf. Nr. 24074, Nr. 57 des 67. Jg., So., 26.2.1933, S. 6 und 26. Anfragen beim Verlag in Steyrermühl bzw. beim Büro in Wien brachten keine weiteren Erkenntnisse. Die Jubiläumsschrift 100 Jahre Steyrermühl aus dem Jahre 1968, die mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurde, erwähnt die Tagblatt-Bibliothek mit keinem Wort. Im (noch erhaltenen) Tagblatt-Archiv waren auch keinerlei Hinweise. Die Gesamtproduktion der Tagblatt-Bibliothek nachzuweisen, war verhältnismäßig leicht. Als Quellen dienten a) das GV bzw. DBV b) Tagblatt-Bibliothek Jubiläums-Bücher-Verzeichnis 1923-1933. Wien: Steyrermühl Verlag, 1933.
[2] NWT, 26.2.1933, S. 6.
[3] Anzeiger, 74. Jg., Nr. 9, 4.3.1933, S. 40.
[4] NWT, 26.2.1933, S. 26.
[5] NWT, 26.2.1933, S. 6.
[6] Pisko war in den 20er Jahren Geschäftsführer der Herz-Verlag A.G. Zu den hier geschilderten Vorgängen siehe ÖSta, AVA, BMfHuV, VVSt, V.A. 26.024, Ernst Pisko. Bei den Personalien zu „Ernst Israel Pisko“ steht „vorm. Chefredakteur“ und „staatenloser Jude“.