Atlantischer Verlag

Atlantischer Verlag Ges.m.b.H.(Wien-Berlin-New York) [1]

Atlantischer Verlag SignetAm 10. August 1923 brachte der Anzeiger für den österreichischen Buch-, Kunst- und Musikalienhandel die „Geschäftsnachricht“, daß Robert Müller, Direktor der Literaria A.G. und Geschäftsführer der mit dieser verbündeten Gesellschaften, sich „einem neuen Verlagsunternehmen“ widmen und als Verwaltungsrat der Literaria A.G. und Geschäftsführer der Literaria-Betriebe ausscheiden werde. „Die Direktion der ‚Muskete‘ bleibt nach wie vor in seinen Händen.“ [2]

Zwecks Anmeldung der neuzuprotokollierenden Firma wurde am 9. Jänner 1924 ein Gesellschaftsvertrag aufgestellt. Am 29. Februar wurde die Firma „Atlantischer Verlag Ges.m.b.H.“ unter Register C, Band 15, pagina 249 ins Wiener Handelsregister eingetragen. Laut Artikel IV des Gesellschaftsvertrags war der Gegenstand des Unternehmens „die Erzeugung und der Handel mit literarischen und artistischen Werken, insbesonders die Herstellung, der Verlag und Vertrieb von Büchern, Zeitschriften und allen sonstigen Erzeugnissen der graphischen Künste“. Gegenstand des Unternehmens war ferner „überhaupt jede gewerbliche geschäftliche Tätigkeit, welche unmittelbar oder mittelbar den Zweck der Gesellschaft zu fördern geeignet“ war.

Trotz der inflationsbedingten Wertminderung war das Stammkapital des neugegründeten „Atlantischen Verlags“ eine ansehnliche Summe Geld, nämlich 200 Millionen Kronen, die dazu noch voll und bar eingezahlt wurden. Robert Müller steuerte 85% des Kapitals oder 170 Millionen Kronen bei, während sein Rechtsanwalt und Freund Dr. Eugen Bochner, ehem. Verwaltungsrat der „Literaria“, die restlichen 30 Millionen aufbrachte. Müller, der zum Direktor und Geschäftsführer ernannt wurde, erhielt für seine Mühewaltung seit Beginn des Betriebs am 1. Jänner 1924 ein Honorar, „welches vorläufig mit 5.000.000 K (…) monatlich festgesetzt wird und auf Spesenkonto zu verbuchen ist“ (Gesellschaftsvertrag, Art. XI).

Es ist erforderlich – da wir hier mit Zahlen operieren, mit denen man heute nicht viel anfangen kann – die diversen genannten Beträge zu relativieren. Vergleicht man Müllers Kapitalanteil (170 Millionen Kronen) mit den Ladenpreisen für Werke des Atlantischen Verlags, also K 42.000 bzw. 70.000, so entsprach er dem Gegenwert von 4.000 bzw. 2.400 verkauften Exemplaren. Müllers Monatsgehalt als Geschäftsführer entsprach demnach dem Gegenwert von 120 bzw. 70 verkauften Verlagswerken.

Das kuriose Verlagssignet stellt übrigens ein Wikingerschiff dar, mit den Buchstaben A und V als Teil des Segels.

Für sein Verlagslokal fand Müller Räumlichkeiten in der Kollergasse 9 im 3. Bezirk, unweit seiner eigenen Wohnung in der Zirkusgasse 10 im 2. Bezirk.

Müllers Wunsch war es gewesen, so berichtet sein enger Freund Otto Flake, „soviel Geld in die Hand zu bekommen, daß er einmal zeigen konnte, was er als verlegerischer Initiant leisten könne“. [3] Müller selber meinte;

Mein Jugendideal war es, Verleger zu werden, Bücher zu drucken, aber nicht des Druckes wegen, sondern um dadurch die Möglichkeit zu haben, durch begabte, strebsame, Ideen repräsentierende Autoren zur Öffentlichkeit zu sprechen. Es war stets mein Ehrgeiz, – und das war vielleicht mein einziger Ehrgeiz – junge Menschen, die der Welt etwas zu sagen haben, auf die Beine zu stellen. Mir hat immer das Herz weh getan, als ich so viele begabte Schriftsteller sah, die bei Kerze und mit leerem Magen schrieben und schrieben, ihr Herz ausschrieben, um vielleicht ihre Arbeiten nie gedruckt zu sehen. Wo ist der Verleger, rief er dann heftig aus, der ein sicheres Heim für unsere obdachlosen Talente wäre? (…) ich bin mit dem größten Elan in die Verlagsschranken getreten. Ich habe zuerst eine große Organisation („Literaria“) schaffen wollen, eine Vereinigung führender Verlagsanstalten, bei Gott, nicht zwecks Ausbeutung des Marktes, aber um durch eine groß angelegte Propaganda in verschiedenen Zentren Europas mit Werken unserer Autoren in die weitesten Schichten einzudringen. Ich gab gemeinsam mit meinem Bruder die Fundamente, spannte jedoch nachher aus, da ich die Möglichkeit sah, als selbständiger Verleger eher meine Ideen zu verwirklichen. [4]

Die Wahl des Zeitpunkts für die Errichtung eines neuen Verlags hätte wohl nicht ungünstiger sein können. Ausgerechnet in einer Zeit, in der das Verlagswesen stagnierte und einen von den allgemeinen Wirtschaftsverhältnissen erzwungenen Schrumpfungsprozeß durchmachte, wollte man neue Käuferschichten anlocken! „Gab es nicht zu denken“, fragte Otto Flake den ehrgeizigen Geschäftsmann Müller, „daß die Auslagen der Buchhändler überschwemmt waren mit den tausend Nachahmungen jener widerlichen ,Garconne‘[5] und des nicht viel besseren ,Tarzan‘?“

Er räumte das alles ein, aber er bestand darauf, daß Wien mit seinem balkanischen Hinterland nicht zu töten sei, den Prototyp einer Stadt darstelle, in der aus Unterhaltungsbedürfnis und entmilitarisiertem Denken, also aus Masse und Geist zuerst eine europäische Form des Amerikanismus entstehen werde. [6]

Obwohl Robert Müller von der „Literaria“ sicherlich eine Abfertigung erhielt, wird er nicht in der Lage gewesen sein, allein die 170 Millionen Kronen aufzubringen. Er trat an Otto Flake, der ihn in Berlin kennengelernt hatte, mit der Frage heran, ob er „einen aufgeschlossenen Geldgeber kenne, der vielleicht auf ihn [Müller] eingehen werde“.

Ich zeigte den Brief Pinkus, und Müller wurde gebeten, zu kommen. [Müller …] ging davon aus, daß in Österreich die Sanierung der Währung beschlossen war, Deutschland eine zerrüttete besaß; die reichsdeutschen Verleger konnten in Österreich drucken, einen Teil der Auflage absetzen, mit diesem guten Geld die Herstellungskosten bestreiten und einen Überschuß erzielen: als Vermittler solle der von ihm geplante Atlantische Verlag dienen. Für diesen selbst entwickelte er ein neuartiges Programm. Die Idee hatte viel für sich, und Pinkus war bereit, sich mit 30.000 Schilling zu beteiligen unter der Voraussetzung, daß ich [Otto Flake] als Lektor angestellt werde. Der Vertrag kam zustande, der Kredit wurde eröffnet. [7]

In den Monaten nach den Gesprächen mit Max Pinkus und Otto Flake begann Müller mit den Vorarbeiten für die Verlagsproduktion. Flake schrieb von „vorbereiten“, denn als Müller „ein halbes Jahr später vom Leder ziehen sollte; hatte er in seiner großzügigen Weise das Geld mit den Vorbereitungen aufgebraucht. Wozu dann allerdings – es war 1924 – die Auswirkung der fatalen österreichischen Frankenspekulation kam“. [8]

Nach amerikanischer Methode war er aufs Ganze gegangen, hatte eine Reibe von Aufträgen auf Bücher und Übersetzungen[9] erteilt und bereits honoriert; große Papiermengen lagen bereit. Er arbeitete nur mit Telegrammen und Eilbriefen. [10]

Dazu Müller selber wieder:

Und ich arbeitete Tag und Nacht, und hatte Freude an der Arbeit, da es mein „Atlantischer Verlag“ war. „Atlantis“ war für mich ein Symbol. Es freute mich, unter den vielen Besuchen einzelner Schriftsteller jauchzende Herzen zu finden, die mir ihr ganzes Vertrauen schenkten; und ich wollte ihnen helfen und half, wo ich nur konnte. Ich bin stolz auf meine Anfänge, obwohl die im Verhältnis zu meinen Plänen unbedeutend sind. Ich breche zusammen, so oft ich sehe, daß ich nicht helfen kann. In meinem Büro liegen Manuskripte, wertvolle, bedeutende, ich hoffte, genügend materielle Stütze zu finden, um sie herauszubringen, ich täuschte mich, ich wurde enttäuscht. [11]

Müller mußte – rückblickend – enttäuscht sein, wenn man einen Blick auf das Verlagsprogramm wirft, das er keine drei Monate nach der Eintragung ins Handelsregister der Öffentlichkeit vorstellt, und es mit dem Endergebnis vergleicht. Er war tatsächlich, wie Flake es formuliert, „aufs Ganze gegangen“.

Am 28. März 1924 erschien im Anzeiger ein ganzseitiges Inserat, das Neuerscheinungen in drei Reihen ankündigt. Der Text im Vorspann ist nicht uninteressant:

Der Atlantische Verlag teilt mit, daß er seinen Betrieb eröffnet hat und für seine Produktion sich die Regel setzt: Herausgabe von solchen Werken, die in einer oder der anderen Form, sei es Gedanke, Dichtung oder Bild, der Entwicklung und Umwertung der Europäischen, Atlantischen und Welt-Gesellschaft dienen.

Angekündigt wurden nicht weniger als 30 Werke. Zuerst kamen die Romane der „Atlantis-Edition“, deren Autoren sich in den meisten Fällen aus Müllers Freundeskreis rekrutieren:

Franz Dirsztay, Kokotte Mann. Der Roman eines erotischen Abenteurers.
J. Hergesheimer, Linda Condon. Sozialer Frauenroman aus dem Amerikanischen. Übertragung von Irene Kafka.
Andreas Thom, Das Chamäleon. Ein Dirnenroman.
Otto Flake, Eine Nacht. Skizzen.
Paul Bourget – Gerard D“Houville – Henri Duvernois – Pierre Benoit, Der Roman der Vier. Übertragen von Irene Kafka.
Béla Balázs, Zwei gehn in die Welt. Erotischer Roman.
Richard A. Bermann, Das Bad der Dschehanara Begum. Asiatischer Kulturroman.
Paris Gütersloh, Szenen aus einem Schriftstellerleben. Roman.

Dann die „literarischen und kunstkritischen Neuerscheinungen“:

Paris Gütersloh, Große und kleine Geschichte. Eine Lebensbeschreibung quasi un“allegoria.
Peter Behrens, Vom romantischen Zusammenklang der Künste. Anton Hanak, Die Stadt als Plastik.
Ludwig Ullmann, Der Maler Johannes Fischer. Eine Monographie. Mit zahlreichen Abbildungen.
L.W. Rochowanski, Revue de danse. Mit zahlreichen Bildtafeln.
Fritz Karpfen, Der Kitsch. Kunstkritische Betrachtungen. Mit zahlreichen Abbildungen.
Oskar Maurus Fontana, Eleonore Duse. Eine Monographie.
Max Hayek, Ein Garten der Erde. Dichtungen.
Persische Liebesmärchen. Mit Federzeichnungen von Franz Zülow.
Clemens Brentano, Romantische Dramaturgie (Burgtheater) Herausgegeben von Richard Schaukal.

und schließlich „Die aktivistische Bücherreihe“:

Walt Whitman, Ontario. Prosa und Dichtungen. In ersten Übertragungen von Max Hayek.
Prentice Mulford, Gesundheit. Essays. Übertragen von Max Hayek.
Paul Goldberger, Psychoanalyse des Antisemitismus.
Paul Goldberger, Umwertung des Geschlechts. Ein psychoanalytischer Beitrag zur Gesellschaftsreform.
Los von der Gewalt. Ein pazifistisches Sammelwerk unter Mitwirkung der englischen, amerikanischen, französischen und italienischen Pazifisten und Kriegsgegner, herausgegeben von Franz Kobler.
Umwertung. Der Almanach des Atlantischen Verlages und seiner Mitarbeiter.
Wladimir Hartlieb, Fortschritt ins Nichts. Kulturkritische Streifzüge durchs Dickicht der Zeit.
Professor Eugen Ehrlich, Der Zusammenbruch eines großen Reiches. Das hinterlassene Werk des bekannten Staatswissenschaftlers.
Dr. Paul Friedländer, Perspektiven der sozialen Revolution. Das Standardwerk über den Kommunismus aus der Feder des bekannten Kommunistenführers.

Müllers Atlantischer Verlag offerierte Ende März 1924 gleich drei Werke „zum sofortigen Bezug“, nämlich Dirsztays Revolution, Hal G. Evarts, Blitz. Roman aus dem kanadischen Urwald- und Jägerleben, Egmont Colerus, Und wieder wandert Behemoth. Ein Spätzeitroman. Es folgten nur noch zwei weitere Bücher:

Franz Dirsztay, Kokotte Mann. Roman eines erotischen Abenteurers. (Erste und einzige Erscheinung der „Atlantis Edition“)
Wladimir Hartlieb, Fortschritt ins Nichts.

Hartliebs Fortschritt war also die letzte Erscheinung des Atlantischen Verlags vor dem Freitod des Mentors im August 1924. Es war auch die einzige Erscheinung aus der „aktivistischen Bücherreihe“. Eine Anzeige für das Buch erschien am 23. Mai 1924. Das Vorwort ist Februar 1924 datiert. Halten wir also fest, daß von 30 angekündigten Büchern bloß fünf erscheinen konnten. [12]

Die Auflage der erschienenen Bücher betrug 3.000 Stück. Die Titelseite des ersten Werkes trägt das Jahr 1923, was einerseits darauf schließen läßt, daß es nicht eigens für den neuen Verlag in Auftrag gegeben bzw. geschrieben wurde und andererseits, daß Vorarbeiten für die Produktion noch im Jahre 1923 ziemlich weit gediehen waren. Es mag erwähnenswert sein, daß, während der Sitz des Verlags in Wien war, das Impressum auch Berlin und New York inkludierte, was bestenfalls auf Auslieferungsstellen und das übliche verlegerische Imponiergehabe hinweist. Von den nicht erschienenen Titeln kamen einige teils mit verändertem Titel in späteren Jahren in anderen Verlagen heraus. Zu nennen wären z.B. Franz Koblers, Gewalt und Gewaltlosigkeit. Handbuch des aktiven Pazifismus, [13] Fritz Karpfens Der Kitsch, das 1925 im Hamburger Weltbund Verlag erschien und Güterslohs Lebensbeschreibung, die 1926 in der Verlagsanstalt Dr. Zahn und Dr. Diamant in Wien herauskam.

Der Verlagsinhaber Robert Müller beging Selbstmord in Wien am 27. August 1924. Freunde und Bekannte spekulierten über den möglichen Grund. Angesichts eines rasch aufgebrauchten Kapitals und der katastrophalen Wirtschaftslage nach massiven Fehlspekulationen an der Wiener Börse im Frühjahr 1924 ist es nicht weiter verwunderlich, daß, wie Die Stunde in einem Müller-Nachruf resümierte, der Verlag „nicht recht zu prosperieren“ schien (29.8. 1924, 2): „Seine Produktion stockte in allerletzter Zeit“ (ebda.). Das Neue Acht-Uhr-Blatt vom 28. August 1924 vermerkte: „In letzterer Zeit war Müller kopfhängerisch, aber niemand von seiner Umgebung merkte Anzeichen von Lebensüberdruß.“ Die Stunde in ähnlichem Sinne: „Möglicherweise hat der Mißerfolg dieses großzügig aufgebauten Unternehmens seinen Begründer in den Tod getrieben. Die erst heute bekanntgewordene Nachricht vom Selbstmord wirkt in jedem Falle überraschend (…).“ (29.8.1924, 2)

Müllers enger Freund Robert Musil sah das gewagte Unternehmen etwas differenzierter:

Er hatte es noch mit einem eigenen Verlag versucht. Die Zeit der Geldkrisis brachte ihm Verlegenheiten. Aber sie waren nicht unabwendbar. Er war vielleicht kein phantastischer Geschäftsmann, aber er war ein starker Kerl, der sich schon etlichemal durch die Welt geschlagen hatte. Kein Mensch kennt den Grund seines Selbstmords, von den üblichen Gründen trifft keiner zu. Wenn er sein Geschäft, an dem er nicht mehr hing, zugesperrt hätte, wären ihm viele Freunde – denn sie liebten ihn – beigesprungen, und er hätte den Beruf als Schriftsteller wieder aufnehmen können; immerhin um vieles weiter als einst, wo er sich als Schiffssteward verdang. Aber er, der die Lebendigkeit des Lebens liebte wie nicht bald einer, hatte sich zutiefst durchdrungen mit den Erfahrungen, die man mit dem Buche und Theaterstück als Ware macht, und war gefangen in dem Gefühl, daß in der heutigen Zeit kein Schriftsteller eine Wirkung erreichen kann, die zu leben lohnt. Ich habe mancherlei Gründe, diese Annahme für richtig zu halten, und mochte solches Empfinden sich auch in plötzlicher Verwirrung übertrieben haben, erworben war es schon lange. Als die Unkenntnis der Zeitungen unmittelbar nach seinem Selbstmord meldete, daß sich ein „Verlagsdirektor“ Müller erschossen habe, hatte sie nicht so ganz falsch gemeldet: der Verlagsdirektor hatte am Ende eines doppelt versuchten Lebens den Dichter Müller getötet. [14]

Es spricht für Musils Menschenkenntnis, daß Robert Müller selber sich ähnlich geäußert haben soll. Hier ein Auszug aus seinem bereits zitierten letzten Gespräch mit dem Verleger Lucian Frank Erdtracht:

„Wir müssen unsere Ideen in Tat umwandeln. Ich hasse phrasenhafte Ideenträger, die keine Tatmenschen sind. Wir müssen in allen unseren Fasern und auf jedem Gebiete aktiv sein. Wir müssen die Menschen nach all diesen Rohheiten zum Menschentum bekehren und erziehen. Erziehen müssen wir sie durch Wort, Schrift und Organisation.“

Robert Müller war der große Verleger, wenn er auch auf dem Verlagsgebiete nicht vieles leisten konnte, doch was er brachte, war voll Liebe zum Werk und Geschmack. Er war ein großer Mensch, in dessen Gegenwart und unter dessen Einfluß man nur ein guter Mensch sein konnte. Sein Herz brannte vor so viel Elend unter seinen Kameraden, bis es verbrannte, aber die Flamme seiner Ideen, seiner Persönlichkeit wird überall, wo nur sein Name bekannt ist, Wärme bringen, Wärme in die Stuben der Armen und Einsamen. (loc. cit.)

Nach dem Tod Müllers und dem praktischen Ende des Verlags benahm sich Geldgeber Pinkus in den Worten Otto Flakes „sehr anständig, er zahlte den Angestellten noch eine Zeitlang die Gehälter und der Frau noch jahrelang einen Zuschuß“ (Es wird Abend, a.a.O., 335).

Am 14. November 1924 fand vor einem Wiener Notar eine a.o. Generalversammlung des „Atlantischen Verlags“ statt. An Stelle des verstorbenen Geschäftsführers Robert Müller wurden die Herren Hans Baedeker, Verlagsbeamter in Wien, und Dr. Paul Kris, Rechtsanwalt, zu kollektivzeichnungsberechtigten Geschäftsführern gewählt. Vertreter der Verlassenschaft nach Robert Müller (wie auch der Erben) war der Freund und Rechtsanwalt Dr. Franz Kobler.

Was das weitere Schicksal des Verlags betrifft, so schlug die Witwe Müller, Olga, zwei Möglichkeiten vor: entweder Geschäftsführer zu bestellen oder die Auflösung der Gesellschaft zu beschließen und einen Liquidator zu bestellen. Bis Mitte 1926 gab es keine weiteren Entwicklungen. Da sich aber der Geschäftsführer Hans Baedeker 1925 ins Ausland absetzte, blieb es dem 2. Geschäftsführer RA Dr. Paul Kris überlassen, im Juni 1926 den Antrag auf Eintragung der Liquidationsfirma und des Liquidators beim Handelsgericht Wien einzureichen. Der Beschluß wurde bei einer a.o. Generalversammlung am 2. Juni 1926 gefaßt. Am 6. August 1926 erschien schließlich in der Wiener Zeitung die gesetzlich vorgeschriebene „Gläubigeraufforderung“.

Anfang Jänner 1929, also fast zweieinhalb Jahre später, beantragte der Liquidator Dr. Paul Kris beim Handelsgericht Wien die Löschung der Firma „Atlantischer Verlag Ges.m.b.H.“ aus dem Firmenregister. In seinem Antrag an das Gericht stellte Kris lapidar fest, was rein finanziell vom Verlag übriggeblieben war: „Ich bemerke, daß der Anteil [85%] Robert Müller“s, der eben wegen Passivität der Gesellschaft durch Selbstmord geendet hat, gänzlich wertlos war.“ [15] Infolge beendeter Liquidation wurde die Firma am 30. April 1929 aus dem Handelsregister gelöscht…

Anmerkungen

[1] Quellenhinweise: Handelsgericht Wien. Registerakt C 15, 249 (WrStLa); Akt Gremium/Atlantischer Verlag; Anzeigen im Anzeiger.

[2] Jg. 1922-23, Nr. 40, S. 380.

[3] Die Literarische Welt (Berlin), Nr. 37, 1924, S. 8.

[4] Der Verleger. Aus meinem letzten Gespräch mit Robert Müller. Von LUCIAN FRANK ERDTRACHT. In: Der blaue Bücherkurier (Wien), XXXV. Jg., Nr. 556, 15.9.1924, S. 2. Erdtracht, von dem in Zusammenhang mit dem Interterritorialen Verlag „Renaissance“ die Rede ist, verlegte Müllers Roman Flibustier. Es kann freilich nicht die Gewähr dafür übernommen werden, daß alle wörtlichen Zitate Müllers bzw. Erdtrachts in diesem Nachruf 100%ig stimmen, aber da das Gespräch kurz vor dem Tod Müllers stattfand, muß man dem Bericht eine gewisse Authentizität zuschreiben.

[5] Angespielt wird hier auf die Übersetzung des französischen Romans Le compagnon von VICTOR MARGUERRITE. Im selben Jahr, 1924, kam es zu einer Parodie dieses Romans und einem Rechtsstreit zwischen Erdtrachts Renaissance-Verlag und dem Verlag Karl Schusdek, der rechtlich autorisiert war, eine Ausgabe zu machen.

[6] Neue Rundschau, Jg. 35, Heft 10, Oktober 1924, S. 1083.

[7] OTTO FLAKE, Es wird Abend. Bericht aus einem langen Leben. Gütersloh 1960, S. 321.

[8] Siehe Anm. 3.

[9] Zum Beispiel an Max Hayek für Prosa und Dichtungen von Walt Whitman.

[10] Es wird Abend (zit. Anm. 7), S. 330.

[11] Anm. 4.

[12] Obwohl sie übrigens nicht alle im Deutschen Bücherverzeichnis aufscheinen!

[13] Erschien im Auftrage der Internationale der Kriegsdienstgegner. Zürich/Leipzig 1928.

[14] ROBERT MUSIL, Robert Müller. In: R.M. Gesammelte Werke, hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 1978, Bd. 8, S. 1136 f. Der Doderer-Verleger Rudolf Haybach, der Müller damals kannte, machte in einem Gespräch mit dem Verf. andere Gründe für den Selbstmord geltend. Demnach hätte die Witwe Müllers ein von ihm geduldetes Verhältnis mit einem vermögenden Adeligen gehabt.

[15] Handelsgericht Wien. Registerakt C 15, 249. Antrag an das Handelsgericht, eingelangt am 15. Jänner 1929.

Ergänzungen zur Buchveröffentlichung von 1985

  • Helmut Kreuzer (Hrsg.): Expressionismus – Aktivismus – Exotismus. Studien zum literarischen Werk Robert Müllers (1887–1924); mit zeitgenössischen Rezeptionsdokumenten und einer Bibliographie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1981 (2., unver. Auflage, hrsg. von Günter Helmes. Hamburg: Igel-Verlag 2012)

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