S. L. Gerstel Verlag (Wien) [1]
Die Gründerin und Alleininhaberin Dr. phil. Sophie Lätitia Gerstel von Ucken, geb. Lampl, ist am 13.10.1879 geboren. Sie promovierte 1904 mit einer Dissertation im Fach Geschichte an der Universität Wien. Im Februar 1929 wandte sie sich an die Korporation der Wiener Buch-, Kunst- und Musikalienhändler zwecks Erwerbung einer Konzession für den zu gründenden „Ucken-Verlag“ im Standort Wien XIX., Billrothstraße 70. Unter „Umfang der Konzession“ wurde angegeben: „Neue Lyrik, Neue Dramatik, und Kompositionen.“ In der Fachsprache bedeutete das den „Verlag und Vertrieb von literarischen und musikalischen Werken aller Art mit Ausschluß des offenen Ladengeschäftes“. Doch die Korporation sprach sich Anfang März 1929 gegen die Konzessionserteilung aus. Trotzdem erhielt sie die Konzession am 20.4.1929[2] in einer Vorentscheidung des Magistratischen Bezirksamts XIX und in einem endgültigen Bescheid vom 5.10.1929. [3] Der Firmawortlaut blieb einige Zeit lang ein strittiger Punkt. Gerstel bestand auf dem Namen „Ucken Verlag Wien“ und die Korporation wollte es anders haben. So heißt es in einem Schreiben Gerstels vom 20.5.1929 an die Standesvertretung:
Im anderen Falle ziehe ich jetzt (…) mein Gesuch zurück, da ich keinesfalls einen Vornamen oder den Namen ‚Gerstel“ als Firmennamen tragen will (…).[4]
Doch die Korporation könne, so wurde mitgeteilt, eine solche Abänderung des Namens nicht vornehmen, das sei Sache des Magistratischen Bezirksamts. Aus einem Schreiben an die Korporation im November desselben Jahres geht hervor, daß die Verlagsinhaberin für ihren Betrieb bereits Vorkehrungen getroffen hat. Der Briefkopf enthält folgendes:
Europäischer Pressedienst. Verlag Dr. Gerstel Wien, XIX., Billrothstraße 70
Und in einem Brief Gerstels an die Korporation vom 3.10.1929 heißt es:
Nach Studium des Gesetzes sehe ich, daß ich das Recht habe, meinen Verlag unter dem Namen „Verlag Dr. Gerstel“ zu führen. Ich ersuche Sie daher, die Addressierung aller Mitteilungen an mich ausschließlich an
Verlag Doctor Gerstel
Wien XIX. Billrothstr. 70 veranlassen zu wollen.
Da die Ausfertigung meiner Concession (…) noch mindestens 4-6 Wochen dauert, beginne ich mit meiner Tätigkeit als Verleger erst im Laufe des Jahres 1930.
Am 28. 11.1931 steht der endgültige Verlagsname S. L. Gerstel Verlag fest, doch läuft das Geschäft noch nicht:
auf Ihre Anfrage vom 19. d. [19.11.1931] kann ich nur mitteilen, daß ich wegen Krankheit im vergangenen Geschäftsjahr Geschäfte überhaupt nicht gemacht (…) habe.
Die Verlagsgründerin und -inhaberin war selber schriftstellerisch tätig: 1913 hatte sie im Wiener Deutsch-Österreichischen Verlag ein Schauspiel, 1929 ein weiteres Stück im Wiener Neudorfer Notz-Verlag veröffentlicht. Das ein wenig extravagante adelige[5] Hausherrenehepaar Gerstel von Ucken führte in Wien-Döbling einen literarischen Salon, aus dem einige Publikationspläne hervorgingen. Der S.L. Gerstel Verlag war neben der Buchproduktion auf dem Gebiet des Bühnenvertriebs zeitweise recht aktiv. Erst 1931 kamen die ersten zwei Theaterstücke auf den Markt. Im nächsten Jahr folgten fünf Lyrikbände und zwei weitere Stücke, darunter eines vom preisgekrönten Schriftsteller Josef Wenter.
Daraufhin trat durch tragische Umstände eine Produktionspause ein: am Rande persönlichen wirtschaftlichen Zusammenbruchs beging der Gatte Dr. phil. Adolf Gerstel-Ucken im September 1932 Selbstmord durch Erschießen, worauf der Verlagsbetrieb im großen und ganzen einschlief. „Einflußreiche Freunde des verstorbenen Hausherrn und ältere Verehrer der Witwe (aus Finanzkreisen) und in hohen Staatsämtern der Republik sorgten für den Lebensunterhalt der Witwe und die Aufrechterhaltung ihres literarischen Salons.“ [6] Im Laufe des Jahres 1934 wurde die Produktion mit zwei neuen Erscheinungen wieder aufgenommen. Doch gegen Ende des Jahres kam es zu einer Übernahme zumindest des Bühnenvertriebs durch den im März 1932 von Stephan Szabo gegründeten Augartenverlag, der bereits mehrere Druckaufträge für den S.L. Gerstel Verlag durchgeführt hatte. [7]
Der Hintergrund dieser Entwicklung wird durch folgenden Brief des Gerstel-Rechtsanwalts Dr. Wolf Bergwerk an die Korporation vom 5.9.1934 erhellt:
Meine Klientin, Frau Gerstel, Inhaberin des Verlages S.L Gerstel, Wien, XIX. Billrothstr. 70 ist krankheitshalber nicht in der Lage, ihr Geschäft weiter zu führen und beabsichtigt ihren Verlag an Frau Milla Kolova-Touskova, Alleininhaberin des Centrum-Verlages Prag, Smecky 2, zu verpachten.
Da Frau Milla Kolova-Touskova ständig in Prag lebt, würde sie sich hier von Herrn Karl Singer vertreten lassen. Herr Karl Singer wird sohin der Gewerbebehörde gegenüber verantwortlich sein. (…)
Die Korporation lehnte das Ansuchen ab. Die letzten drei nachweisbaren Publikationen des S.L. Gerstel Verlags erscheinen schließlich 1937.
Die Verlagsproduktion über die zwei bis drei (bzw. sechs) Jahre umfaßte also etwa eineinhalb Dutzend Titel. Es sind hier durchwegs die bodenständig-konservative österreichische Literatur und deren Exponenten vertreten. Es sind Autoren, die während des Ständestaats gefördert wurden und den Übergang zur „Ostmark“ mühelos schafften. Manche von ihnen, wie etwa Karl Wache, hatten aber schon in den 20er Jahren aus ihrer deutschnationalen Gesinnung kein Hehl gemacht. Es erstaunt daher nicht, daß die Übernahme einerseits durch den völkisch gesinnten Augartenverlag erfolgte und daß andererseits Gerstel-Verlag-Autoren wie Hermann Graedener, Karl Wache, Otto Emmerich Groh, Josef Wenter u.a. in der 1946 vom Unterrichtsministerium in Wien erstellten Liste der „gesperrten Autoren und Bücher“ aufscheinen. Weiters ist am Beispiel dieses Verlags erkennbar, daß in den 30er Jahren in Österreich Verlagsunternehmen entweder zu Übersetzungsliteratur tendierten (vgl. E.P. Tal, Herbert Reichner, Glöckner-Verlag) oder eben zu völkisch-nationaler Dichtung (z.B. Augartenverlag, Krystall-Verlag), insoweit diese Sparte nicht ohnehin vom Leipziger L Staackmann Verlag monopolisiert wurde, neigten.
Wohl aus Kostengründen wurden die Bücher des S.L Gerstel Verlags nicht illustriert, ja lediglich in einem einzigen Fall wurde ein künstlerisch ausgestatteter Umschlag gewagt. Diese Umschlagzeichnung zu H.F. Schells Frauenlieder (1932) stammt vom Präsidenten des Künstlerbunds „Hagen“, Carry Hauser. Mit dem Impressum „Wien-Leipzig-Zürich“ betrieb der Verlag die übliche Hochstapelei; er hatte aber ein durchaus repräsentatives Signet, das das Familienwappen der Gerstel-Ucken darstellt.
Die Verlegerin Sophie Gerstel-Ucken starb in Wien am 28.10.1957 (s. Die Presse, 31.10.1957, 4).
Nach 1938
Unmittelbar nach dem „Anschluß“ 1938 stieg Frau Dr. Gerstel erneut in das Verlagsgeschäft ein. Diesmal nannte sie ihr Unternehmen „Verlag Dr. von Gerstel“ in Anlehnung an reichsdeutsche Adelstitulierung, mit dem Sitz in Wien I., Getreidemarkt 14. Nun bestand ihre Produktion aus einer „Romanreihe-Jugendausgaben“: Männer machen die Geschichte: „Die weltbekannten großen Romane unserer Ostmark-Dichter werden der deutschen Jugend zugänglich“, gibt man nicht ohne Stolz in der Eigenwerbung bekannt. Und Gerstel, deren Verlagsautoren der 30er Jahre z.T. für sich sprechen, hat durchaus den Geschmack der neuen Zeit, die nach „Führer-Persönlichkeiten“ lechzte, erfaßt: mit der Genehmigung des Rechteinhabers, der F. Speidel’schen Verlagsbuchhandlung, Wien-Leipzig, die ungeheuer erfolgreich war, bearbeitete sie insgesamt neun Romane, darunter fünf des Bestseller-Autors Mirko Jelusich (Caesar, Cromwell, Hannibal usw.) und vier der Bestseller-Autorin Gerhart Ellert (d.i. Gertrud Schmirger) zu 48 Seiten starken Kleinformatausgaben im Jahre 1938. Sie waren für Schulzwecke konzipiert. Ab 1941 firmierte dieses Unternehmen als „Karl Lang Verlag“.
Arthur, Gabriel M. [d.i. Gabriel Petrasovics], Der Gigant. Ein Zeitdrama in neun Bildern. 1932. (59 S.)
Braun-Prager, Käthe, Verfrühter Herbst. Neue Gedichte. 1932. (46 S.)
Gerwald, Hubert Ludo [d.i. Hubert Beyer], Harfe und Janushaupt. Gedichte.1937. (47 S.)
Graedener, Hermann, Neues Reich. (Sickingen). Eine deutsche Tragödie in sieben Bildern. 1931. (111 S.)
Groh, Otto Emmerich, Attila. Tragödie in drei Akten. 1931. (77 S.)
Hayek, Hans A., Österreich. Gedichte. 1934. (21 S.)
List, Rudolph, Gedichte. 1932. (32 S.)
Nüchtern, Hans, Gesang vom See. Gedichte. 1932.
Scheibelreiter, Ernst, Freundschaft mit der Stille. Gedichte. 1932. (40 S.)
Schell, Hermann Ferdinand, Frauenlieder. (Einbandentwurf von Carry Hauser). 1932. (62 S.)
Schmidl, Leo, Grundsätzliches über Dichtkunst und Dichter. 1937.(8 S.)
Schopper, Hanns E., Es leuchtet kein Licht in der Finsternis! Ein Querschnitt in 14 Bildern. Regie- und Soufflierbuch. Als unverkäufl. Ms. vervielf. Wien: Gerstel, 1931. (88 gez. Bl.)
Stockert-Meynert, Dora von, Spiegelbilder. (Gedichte). 1937. (43 S.)
Wache, Karl, Licht und Schwere. Farben und Töne. 1934 (67 S.)
Wahle, Richard, Don Pizarro. Drama, spielt in Spanien zu Beginn d. franz. Revolution. 1935. (30 S.)
Wenter, Josef, Spiel um den Staat in neun Bildern. 1932 (73 S.)
Witt, Leo [d.i. Leo Wittmayer], Gedichte. 1934. (47 S.)
S.L Gerstel-Bühnenvertrieb:
Gerwald, Ludo, Perikles und die Athener. Drama in 5 Akten. 1935.
Gerwald, Ludo, Das Opfer des Themistokles. Tragödie. 1936.
Anmerkungen
[1] Quellenhinweis: Akt Gremium/Gerstel. Der Verlag war nicht handelsgerichtlich protokolliert.
[2] Entspricht der Angabe des Gründungsdatums im Adreßbuch 1930.
[3] Entspricht der Angabe des Gründungsdatums im Adreßbuch 1934 und 1937.
[4] Alle im folgenden zitierten Briefe finden sich im Akt Gremium/Gerstel.
[5] Dr. Adolf Gerstel-Ucken war Sohn des k.k. General-Inspectors der Bundesbahnen, der 1907 in den österreichischen Ritterstand erhoben wurde, und einer Reichsgräfin. Er beging am 22.9.1932 Selbstmord. Der Vater Gustav soll mit Hermann Broch und Robert Musil wie auch mit vielen prominenten Köpfen Wiens befreundet gewesen sein.
[6] Zitiert nach der maschingeschriebenen, unveröffentlichten Autobiographie (Bruchstück) des 1974 verstorbenen Hubertus Beyer (ps. Ludo Gerwald). Im Privatbesitz. Diesen Hinweis verdanke ich Herrn Dr. Gerhard Renner, Wien. Gerwald kam sehr jung in den Kreis um Sophie Gerstel und ihren Mann und nahm ihr einige Arbeit im Verlag ab.
[7] S. Der Augarten (Wien), I. Jg., Heft 3/4, November-Dezember 1934, S. 88 und ebda., Nr. 7, März 1935, S. 46.