Neuer Akademischer Verlag (Wien-Leipzig)[1]
Eine weitere neue Verlagsgründung im ersten Nachkriegs-Jahr 1919 war der Neue Akademische Verlag Leipzig-Wien (Redaktion und Administration: IV., Rainerplatz 9, umbenannt auf Suttnerplatz 9). Inhaberin dieses Unternehmens, dessen Autoren sich großteils in späteren Jahren als „völkisch-nationale“ Schriftsteller profilierten, war Frau Bertha Martin. Frau Martin wandte sich am 29.4. 1919 an die Korporation der Wiener Buch-, Kunst- und Musikalienhändler, einerseits um der Korporation beizutreten, andererseits um eine neue Konzession zum Betriebe des „Neuen Akademischen Verlags“ zu erhalten. Von anderen Verlagsmitarbeitern sind lediglich die Namen Richard Watzlawek (ps. Richard Sanneck, 1880-1965) und Karl Schoßleitner (1888-1959) bekannt. Das Verlagssignet stellt drei konzentrische Kreise mit den verschnörkelten Buchstaben „NAV“ in der Mitte dar.
Am 1. Oktober 1919 erscheint die erste Folge einer höchst interessanten Zeitschrift, die für die Verlagsproduktion überhaupt richtungsweisend ist und ein ehrgeiziges, furchtloses und selbstbewußtes „österreichisch-nationales“ Programm ankündigt. Sie heißt Die hohe Blume. Poetische Blätter und erscheint „am 1. u. 15. eines jeden Monats“. Etwa ein Drittel der Umschlagseite, deren Papier von besserer Qualität ist, wird von einer Zeichnung des Malers und Illustrators Alexander Rothaug (13.3.1870, Wien-5.3.1946, ebda.) in Anspruch genommen. Sie stellt eine Muse dar, die mit der rechten Hand die Lyra spielt und mit der linken nach jener „hohen Blume“ greift.
Da die Firma nicht handelsgerichtlich protokolliert war, ließ sich wenig über das Auflösungsdatum, die finanziellen Verhältnisse und den fixen Mitarbeiterstab in Erfahrung bringen. Eine Verlagstätigkeit konnte lediglich in den Jahren 1919 bis 1922 zweifelsfrei nachgewiesen werden.
Im allerersten Heft der Hohen Blume findet man in der programmatischen Schrift Was wir wollen neben Wissenswertem über den Rahmen der geplanten Produktion auch Spitzen gegen den zeitgenössischen Literaturbetrieb. Ähnlich anderen Neugründungen dieser Zeit standen erstens die gegenwärtige Literatur und zweitens die jungen deutschösterreichischen Autoren im Vordergrund. Die Programmschrift trägt auch sonst dem Zeitgeist Rechnung, indem sie das „Chaos unserer Zeit“ widerspiegeln und deutsches Gedankengut in einer deutschen Kulturgemeinschaft trotz Anschlußverbots bewahren möchte. Die programmatische Erklärung hat folgenden Wortlaut:
Der „Neue Akademische Verlag“ hat sich zur Aufgabe gesetzt, trotz der schweren Zeit und trotz der ungeklärten Verhältnisse in Deutschösterreich ein Förderer der Literatur zu sein. Er ging hiebei von der Voraussetzung aus: Schon vor dem Kriege gab es in dem damaligen Österreich gewisse Gruppen von Schriftstellern, die sich durch Mittel durchzusetzen wußten, die vielleicht weniger mit der Literatur, als mit gewissen gesellschaftlichen Beziehungen im Zusammenhange standen.
Es kann natürlicherweise nicht die Aufgabe des „Neuen Akademischen Verlages“ sein, Untersuchungen darüber anzustellen, ob die Wiener „Literaturkaffeehäuser“ der richtige Ort für die Beurteilung des dichterischen Schaffens waren. Daß Talente, wie Peter Altenberg u.a. durch diese, sagen wir Vetternwirtschaft, in ihrer Entwicklung gehemmt, ja geradezu unterbunden wurden, ist den Wissenden so bekannt, daß es wahrlich nicht Sache eines neuen Verlages sein kann, darüber ein kritisches Urteil abzugeben.
Wenn wir uns nun doch an das Publikum wenden und ihm kund tun, daß wir die aufstrebende, in den weitesten Kreisen ganz unbekannte deutschösterreichische Dichtergemeinde allgemein bekannt machen wollen, so schwebt uns dabei natürlich nicht das nackte Geschäftsinteresse, sondern der Gedanke vor, durch unsere Publikationen den Nachweis führen zu können, daß die Blume Poesie auch heute noch in unseren Reihen blüht.
Der „Neue Akademische Verlag“ will nun in zwanglosen Heften dem großen Publikum in Darbietungen unserer gegenwärtigen Literatur zugänglich machen. Zu diesem Zwecke wird er unter dem Titel: „Die hohe Blume“ das literarische Wirken unserer gegenwärtigen Zeitperiode darzustellen versuchen und an keiner Erscheinung vorübergehen, die diesbezüglich beachtenswert ist. Die Publikationen des Verlages sollen – und das ist sein oberster Zweck – ein Spiegelbild dessen geben, was in dem Chaos unserer Tage die Geister bewegt. Nichts wird der Verlag unbeachtet lassen. Er stellt sich auf keinen politischen Standpunkt, er maßt sich nicht die Zensur über irgend einen Gedanken an. Ihm schwebt als oberstes Ziel vor, zu zeigen, daß trotz der Drosselung deutschen Gedankens sich auch in unseren harten Tagen die Vernunft siegreich Geltung verschaffen wird.
Der Verlag ist sich bewußt, daß er damit ein schweres Versprechen eingeht, er wird aber in der Folge zeigen, daß seine Versprechungen nicht leeres Wortgeklingel, sondern bitterer Ernst sind.
In dem schon mit heutigem Tage erscheinenden ersten Hefte der „Hohen Blume“ geben wir dem weit über die Grenzpfähle Deutschösterreichs bekannten Lyriker Franz Karl Ginzkey das Wort.
Der beschränkte Raum unseres ersten Heftes erlaubt uns leider nur eine ganz bescheidene Auslese aus den Schöpfungen dieses gottbegnadeten Dichters zu geben. Unsere Leser werden aber schon aus diesen kleinen Proben klar erkennen, daß hier ein Dichter zu ihnen spricht, der der Welt wirklich etwas zu sagen hat in seiner klangschönen, formvollendeten Weise.
Obwohl Franz Karl Ginzkey den weitesten Kreisen bekannt ist, glauben wir doch verpflichtet zu sein, die Abnehmer unserer Veröffentlichung mit dem Werdegang des Mannes bekannt zu machen, dessen poetisches Schaffen Zeugnis davon ablegt, daß die Dichtkunst in Deutschösterreich auf der Höhe steht und sich nicht zu scheuen braucht, in den Wettbewerb mit den gleichen Bestrebungen im Deutschen Reiche zu treten.
Richard Sanneck.
Von dieser Zeitschrift sind trotz der im Deutschen Bücher-Verzeichnis angegebenen 12 Folgen jährlich 1919/20 lediglich 12 Schwerpunkt-Nummern erschienen. Zu mehr ist es nicht gekommen. Jedes Heft hat einen Umfang von durchschnittlich 8 Seiten, wobei in der Regel 1-2 Seiten Verlagsanzeigen (Neuer Akademischer Verlag, Ed. Strache Verlag, L. Staackmann Verlag) überlassen werden. Bis auf den Umschlag wird auf Zeitungspapier gedruckt. Neben einer Kurzbiographie samt Foto findet man eine kleine Auswahl der Lyrik und eine Bibliographie der Schriften. Verantwortlicher Redakteur für die Nummer 1 bis 6 ist der Schriftsteller Richard Watzlawek; Herausgeberin ist Bertha Martin. Ab Nummer 7 übernimmt Frau Martin beide Aufgaben.
Im Gegensatz zum Vorhaben, junge literarische Talente zu fördern, ist das erste Heft, das, wie erwähnt, dem 48jährigen Franz Karl Ginzkey gewidmet ist, insofern eine Ausnahme, als die sonst in dieser Reihe vertretenen Autoren zwischen 20 (Edmund Weber) und 37 (Alfons Petzold) Jahre alt sind, also gewiß noch jung genug, um nicht zum literarischen Establishment zu gehören. Der Inhalt der zwölf erschienenen Nummern sieht folgendermaßen aus:
1. Franz Karl Ginzkey (* 1871)
2. Alfons Petzold (* 1882)
3. Robert Hohlbaum (* 1886)
4. Gustav Renker (* 1899)
5. Jung Tiroler
6. Hans Nüchtern (* 1896)
7. Erwin Stranik (* 1898)
8. Mirko Jelusich (* 1886)
9. Philipp Munk (* 1892)
10. Erwin Weill (* 1885)
11. Edmund Weber (* 1900)
12. Leo Hintze (* 1900)
In der September-Nummer 1920 des im Neuen Akademischen Verlag erscheinenden Literaturblatts für deutsches Hochschulwesen[2] werden weitere sechs Folgen angekündigt: Gisela von Berger, Jung Wien, Oswald v. Menghin, Leo Heller, Friedel Schreyvogl und Heinrich v. Schullern. Erschienen sind sie nicht.
Es geht aus einer Vorbemerkung im März 1920 zum Jung Tiroler-Heft (Nr.5) mit Beiträgen von Leopold Ceipek, Josef Leitgeb, Josef Leitner, Josef M. Metzler, Josef Georg Oberkofler, Siegfried Ostheimer, Eberhard Weittenhiller, die von Karl Schoßleitner verfaßt wurde, hervor, daß weitere Bundesländerhefte neben einer „Jung Wien-Nummer“ in Vorbereitung waren. Karl Schoßleitner wurde beauftragt, ein Salzburger- und ein Steirer-Heft vorzubereiten. Zum Erscheinen kam es allerdings nicht.
Mit Ausnahme von zwei oder drei unter insgesamt ca. 32 Verlagstiteln, die zwischen 1919 und 1922 erschienen (1919:11; 1920:15; 1921:3; 1922:2) sind alle Publikationen meist kleine Lyrikbände. Der Umfang der Bücher, die ausschließlich und aus Kostengründen auf billigem Zeitungspapier gedruckt wurden, schwankte zwischen 19 und im Extremfall 120 Seiten.
Obwohl man in der Verlagswerbung die neuerscheinenden Bücher als „Werke bedeutender deutschösterreichischer Autoren“ pries, fanden die allerwenigsten Aufnahme in Literaturgeschichten. Um hier nur einige Titel zu nennen: es erschienen von Erwin Stranik, der für die Pamphlete Myrtenkranz Moral und Dirnentum von Käti Parrot 1922 die Einleitung verfaßte, Der blonde Frühling. Ein Zyklus (1920), Der innere Schrei. Gedichte (1921), Sturm. 1 Akt (1921), Das Lied um den Tanz. Ein Bänkelbuch (1920), von Karl Adolph Am 1. Mai. Eine Tragikomödie der Arbeit aus Friedenstagen (1919) sowie Werke von Karl Franz Escuyer-Wittich (2), Eduard Golias (2), Josef Kitir (Mond am Tag. Lyrische Lese aus 6 Büchern (1919), Karl Maria Klob, Michael Thonet u.a. Die völlige Unbekanntheit (damals wie heute) des Gros der Verlagsautoren verleitet zur Annahme, daß es sich um einen „Subskriptionsverlag“ handelte.
Entgegen einer allfälligen Annahme auf Grund des Verlagsnamens, daß sich unter den Autoren lauter Akademiker fänden, waren lediglich eine verschwindende Minderheit Universitätsabsolventen.
Neben den beiden erwähnten Zeitschriften Die hohe Blume und Literaturblatt für deutsches Hochschulwesen erschien für kurze Zeit 1920 eine „Schriftenreihe“ Die Brücke, die von Erwin Stranik, selbst mehrfach vertretener Verlagsautor, herausgegeben wurde. Die Reihe, in der bloß vier Bände herauskamen, war ein Druck für die personalmäßig verwandte „Wiener Literarische Gesellschaft“. Der „Zweck“ dieses Vereins deckt sich mit dem des „Neuen Akademischen Verlags“, und zwar bezweckte die Gesellschaft „die Förderung heimischer Talente auf dem Gebiete der Literatur, wie auch die Popularisierung schon anerkannter Autoren durch Veranstaltungen von Vorlesungen, Theateraufführungen, Vorträgen und Herausgabe von Publikationen literarischen Inhaltes“.[3] Übrigens hat Stranik seine gewiß nicht uninteressanten Erlebnisse in diesem Verein später in einem kuriosen Roman verwertet.[4]
Über das Schicksal des „Neuen Akademischen Verlags“ nach 1922, dem letzten Jahr, in dem Veröffentlichungen nachzuweisen sind, ließ sich nichts ermitteln. Der Verlag soll jedoch nach unbestätigter Auskunft dem Österreichischen Bundesverlag für Unterricht, Wissenschaft und Kunst in Wien in den frühen 20er Jahren einverleibt worden sein. Einem Vermerk im Verleger- und Institutionenkatalog der Deutschen Bücherei in Leipzig zufolge soll der spätere Besitzer ein Herr Emil Kostiner sein, der im Adreßbuch der Stadt Wien (Lehmann) erstmals 1926 als Generalvertreter der Verograph Co. Wien, mit dem Hinweis „akad. Verlag“ aufscheint.
Anmerkungen
[1] Dieser Verlag war nicht handelsgerichtlich protokolliert, und der Akt Gremium/Neuer Akademischer Verlag bzw. B. Martin enthält lediglich ein einziges Blatt.
[2] Zweck dieser Monatsschrift laut 1. Jg., Nr. 1 vom Mai 1920: Methodische Kritik aller literarischen Erscheinungen, die sich mit der deutschen Hochschule beschäftigen. Herausgeber waren Dr. O.E. EBERT und Dr. O.F. SCHEUER.
[3] Bundes-Polizeidirektion Wien. Vereinsbüro. Akt Zahl X-962 „Wiener Literarische Gesellschaft“.
[4] Für den Herbst 1924 war der erste Teil der satirischen Romantrilogie Koko Irregang, die Geschichte des modernsten Zeitgenossen angekündigt worden, doch erschien das Werk erst 1926 in einem Band im Hamburger „AVA“ Allgemeine Verlags-Anstalt u.d.T. Koko Irregang. Roman. Siehe Die Kultur (Wien), 2. Jg., Heft 7, Mai 1924, S. 1 mit der Biographie Straniks und diesem Hinweis.