IV. Schrifttumsverbote in Österreich ab 1933
Zentral für das Verständnis der Kultur- und Buchpolitik in Österreich und der literarischen Beziehungen zum Deutschen Reich ab 1933 und bis zum März 1938 sind die Kriterien, nach denen Schriften verboten wurden bzw. verboten werden konnten. Es scheint deshalb vonnöten, auf diese Kriterien einzugehen, da es in den letzten Jahren diesbezüglich zu einer Legendenbildung gekommen ist. Im Verbotsbereich zeigen sich manche Parallelen und Gemeinsamkeiten in der diesbezüglichen Politik beider Länder, die zur Sprache kommen sollen, wobei man sich der Problematik bewußt sein muß, daß beim „Abwägen“ zweier „Übel“ das sogenannte geringere dennoch verachtenswert bleibt.
Während für den Bereich „Büchereien“, Arbeiterbüchereien und öffentliche Bibliotheken (am Beispiel der Universitäts-Bibliothek Wien) sorgfältige Analysen zum Thema Zensur im Ständestaat vorgenommen worden sind, ergibt eine Auseinandersetzung mit dem Bereich Buchhandel und speziell belletristischer Literatur ein grundsätzlich anderes Bild. Die erste These hier lautet also: Was für Büchereien und Bibliotheken Geltung hat, läßt sich – obwohl die Rezeption der letzten Jahre fälschlicherweise in diese Richtung zielt – nicht ohne weiteres auf den gesamten Buchhandel übertragen. Die zweite These lautet dahingehend, daß einheimische belletristische Verlage von der repressiven Schrifttumspolitik des Ständestaates kaum, wenn überhaupt, betroffen waren.
Soweit man die Schrifttumspolitik in Österreich und dem Deutschen Reich vergleichen kann, fällt das vorwiegend Negative auf, so etwa die radikale Einschränkung der ohnehin nie sehr großen Pressefreiheit, das Verbot von freien Gewerkschaften, das Verbot von politischen Parteien, die Bekämpfung von Marxismus und Kommunismus, die Unterdrückung jedes irgendwie systemkritischen Schrifttums, die Ausschaltung aller Opposition und schließlich der Sittlichkeitsfanatismus, der unter der Flagge Ausrottung von Schmutz und Schund, Jugendschutz usw. segelte. Als österreichische Besonderheit im christlichen Staat darf die Reglementierung des religiösen Bereichs gelten, der vor allem auf die Vorstellungen der römisch-katholischen Kirche eingestellt war.
Während die Begriffe „Index“ und „lndizierung“ für Nazi-Deutschland gerechtfertigt und gebräuchlich sind, sind sie für die Situation in Österreich 1933-38 nicht zutreffend. Der Sachlage näher kommt man wohl mit „Verbotspolitik“. Geht man davon aus, daß es im Deutschen Reich nach der Machtergreifung Hitlers eine zwar teilweise irrationale, chaotische, doch berechnende und langfristig gesehen systematische Schrifttumspolitik gab, die man mit einem umfangreichen Apparat zu verwirklichen gedachte, hinterläßt die negative Kulturpolitik in Österreich den Eindruck des Ad-hoc-Vorgehens – was die Auswirkungen und Implikationen keineswegs verharmlost. Im Reich schuf man eine eigene Institution, die verschiedenen Kammern, um das Schrifttum „reinzuhalten“ bzw. zu „säubern“. In Österreich. wo man Gelegentlich genauso willkürlich vorging, gab es eine solche Institution nicht. Es gab auch keine Institution expressis verbis zur Förderung des heimischen Schrifttums, und einer ab Mitte der 30er Jahre diskutierten „Kammer des Schrifttums“ für Österreich[1] wäre sowieso keine Zensurkompetenz zugekommen. Genau genommen stellten die zu erörternden Verbotslisten in Österreich kein „Reinigungswerk“ im nationalsozialistischen Sinn dar (Anordnung der RSK vom 25. April 1935), wie dies die „Liste 1 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ in Deutschland sein sollte. In Österreich fehlte eine Ausschaltung der Juden aus dem Verlags- und Buchwesen. Die Begriffe „schädlich“, „volksschädlich“, „unerwünscht“, „Kulturverrat“ usw. waren in Österreich weder gebräuchlich noch geläufig. Sieht man vom Strafgesetz ab konnten in Österreich Bücher zumindest bis 1935 en Bundesgesetzen nach überhaupt nicht verboten werden.
Daß aber das Verbot doch eine Art österreichischer Schrifttumspolitik darstellte, wird von prominenter ständestaatlicher Stelle auch bestätigt: Der frischgebackene Bundeskulturrat Guido Zernatto bekannte sich im März 1935 in seinem Aufsatz „Kultur und Staat“[2] zum großen geistigen Umbau und: zum Verbot. Der neue Staat, so Zernatto, sehe sich nach zwei Jahren an der Macht „bei der Inangriffnahme einer planmäßigen Förderung hochwertigen heimischen Schrifttums vor eine schwere Aufgabe gestellt“. „Der Staat wird nach der positiven und nach der negativen Seite hin in viel größerem Maße als bisher die Herstellung und Verbreitung bestimmter Bücher und Druckschriften zu fördern, das Verbot bestimmter Bücher und Druckschriften durchzufahren haben.“ Ein so offenes Bekenntnis zum Verbot war keine Alltäglichkeit.
Am augenscheinlichsten wurde das Mittel des Verbotes im Pressewesen angewendet. Die neuen Machthaber begannen eine Flut von scheinlegalen (weil sie nicht verfassungsmäßig zustande gekommen waren) Bundesgesetzen und Verordnungen zu erlassen und traten wiederholt die Flucht nach vorne an, um jedwede Form der Opposition auszuschalten. Sehen wir uns einige Mittel dieser Machtpolitik an, um dann zu den Verbotskriterien bei Büchern zu gelangen.
Am 7. März erließ die Bundesregierung eine Verordnung „betreffend besondere Maßnahmen zur Hintanhaltung der mit einer Störung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit verbundenen Schädigungen des wirtschaftlichen Lebens“, deren § 3 die Beschlagnahme von Presseerzeugnissen vorsah. Auch wurden bestimmte Zeitungen unter Vorzensur gestellt. Dies erfolgte, wenn nach etwas verschwommenen Kriterien – der Tatbestand einer Verletzung des vaterländischen, religiösen oder sittlichen Empfindens vorlag (BGBl. Nr. 41/1933 bzw. in verschärfter Form BGBl. Nr. 120/1933 vom 10.4.1933).
Schlüsselbegriffe im Verbotsregen waren naturgemäß „öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit“. So erfolgte am 26.4.1933 eine Verordnung, die sich gegen die Gefährdung derselben durch Plakate und Flugblätter wandte (BGBl. Nr. 155/1933).
Das erste ausdrückliche Verbot einer Zeitung erfolgte am 26. Mai 1933 durch die „Verordnung der Bundesregierung (…), womit der Kommunistischen Partei jede Betätigung in Österreich verboten wird“. Von dieser Maßnahme betroffen waren also nicht nur Zeitungen, wie etwa die Rote Fahne, die bis 22. Juli 1933 weiter erschien,[3] sondern auch „kommunistische“ Bücher und Broschüren. So berichtete Der Wiener Tag am 1. 6. 1933 von der Aktion einer polizeilichen Kommission in der kommunistischen Buchhandlung in der Alserstraße, bei der neben der Roten Fahne 3.000 kommunistische Bücher und 35.000 Broschüren beschlagnahmt worden seien. Als nächster Schlag gegen eine mißliebige, oppositionelle Presse und in Anerkennung eines obersten Gebots des christlich-deutschen Ständestaats, des „Schutzes der Sittlichkeit und der Volksgesundheit“, wurde eine entsprechende Verordnung der Bundesregierung am 26. Mai 1933 erlassen. Die Verordnung beinhaltete verschiedene Bereiche – vom Verbot des öffentlichen Vertriebs, Anschlags und Aushängens von Zeitungen mit Abbildungen des ganz oder vorwiegend nackten menschlichen Körpers (ausgenommen Abbildungen von kleinen Kindern) bis zur Einschränkung der Verkaufsmodalitäten für mechanisch wirkende Empfängnisverhütungsmittel.[4] Was das Verbot von Abbildungen betrifft, so hatte diese Verordnung Paralleldelikte sowohl im bestehenden Preß- (§ 12) als auch im bestehenden Strafgesetz (etwa § 516).
Am 19. Juni 1933 erfolgte die Verordnung der Bundesregierung, „womit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (Hitlerbewegung) und dem Steirischen Heimatschutz (Führung Kammerhofer) jede Betätigung in Österreich verboten wird“ (BGBl. Nr. 240/1933). Davon war auch die Herausgabe bzw. der Vertrieb von Zeitungen, wie etwa Völkischer Beobachter, betroffen. Gerade in der Anwendung dieses neuen Gesetzes herrschte ziemliche Unklarheit, wie auch die Anzahl der anfallenden konfiszierten Schriften ein großes verwaltungstechnisches Problem darstellte. Am 5. Juli erschien eine neue Verordnung vom 30. Juni über sogenannte „Pflichtnachrichten“, die alle in Österreich erscheinenden Zeitungen ohne Gegenbemerkung unentgeltlich zu veröffentlichen hatten. Zwei Tage später kam die Verordnung der Bundesregierung vom 7. Juli 1933 (ausgegeben am 21.7.1933) über die Entziehung der Gewerbeberechtigung wegen Förderung der verbotenen Betätigung einer Partei. Gewerbetreibenden, die in irgendeiner Form die Betätigung einer verbotenen Partei ermöglichten oder erleichterten, konnte danach „unbeschadet der allfälligen Bestrafung – ohne vorherige Warnung – die Gewerbeberechtigung entzogen werden“ (Text der Verordnung). Nach außen hin bewahrte man also ein einigermaßen liberales Image, indem man Presseerzeugnisse nicht unbedingt verbot, aber die Druckereien und Verlage mit Konzessionsentzug bedrohte, wenn sie verbotene nationalsozialistische oder kommunistische Zeitungen herausgaben.
Am 12. Februar 1934 kam es durch die Verlautbarung des BGBl. Nr. 78 zu einem schwerwiegenden (innen-) politischen Eingriff, der sich von den vorangegangenen NSDAP- und KP-Verboten deutlich abhebt. Denn mit dem 12. Februar 1934 erschien die Verordnung, „womit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs jede Betätigung in Österreich verboten wird“. Neben einer allfälligen strafgerichtlichen Verfolgung konnte eine Zuwiderhandlung mit einer Geldstrafe von bis zu 2.000 Schilling oder mit Arrest bis zu sechs Monaten bestraft werden. Die Verordnung trat sofort in Kraft. Obwohl diese neuen Bundesgesetze also „lediglich“ die Parteien verbot, wurde, wie auszuführen sein wird, ein Verbot für Druckschriften, die eine Förderung dieser Parteien darstellte, abgeleitet.
Typisch nicht nur für die anscheinend völlig außer Kontrolle geratene Gesetzes- und Verordnungsmaschinerie, sondern auch für die Schaffung von Gesetzesbestimmungen, die ohnehin schon ein, zwei, drei Mal in den Gesetzbüchern vorhanden waren, war die neuerliche Verordnung der Bundesregierung vom 23. März 1934 (BGBl. Nr. 171/1934) zum Schutze der Sittlichkeit und der Volksgesundheit. Hiemit war das BGBl. Nr. 219/1933 aufgehoben. Obwohl der Tatbestand mindestens schon durch das Schmutz- und Schundgesetz, durch das Preßgesetz und durch das Strafgesetz (Pornographie etc.) ausreichend gedeckt war, schufen die „Gesetzgeber“, förmlich sexualneurotisch, neue Einschränkungen. So war es per Verordnung unter der Überschrift „öffentliches Ausstellen und Ankündigung von Schriften wirklich oder angeblich unzüchtigen Inhaltes“ verboten, 1. Schriften (Bücher, Zeitungen, Probehefte u. dgl.) öffentlich auszustellen, die „offenbar der geschäftlichen Ausnützung geschlechtlicher Begehrlichkeit“ dienten. Daß die Gerichte sich nicht auf diese neuen Verordnungen und Gesetze beriefen, sondern auf den bewährten § 516 St.G., ist nur ein Beispiel für die Fragwürdigkeit und Zwecklosigkeit dieser Gesetzesflut. Man mußte im Ständestaat nicht einmal ein neues Amt errichten oder eine neue Institution schaffen: Eine solche Einrichtung bestand schon. Nach einem Erlaß des Ministeriums des Innern vom 16. Juni 1912, Zl. 5704, wurden der Bundes-Polizeidirektion in Wien als Zentralevidenzstelle für Österreich die Agenden als „Zentralstelle zur Bekämpfung unzüchtiger Veröffentlichungen (Pornographie) für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder“ zugewiesen. Zu ihrer Tätigkeit gehörte also „die Evidenthaltung der gerichtlich verbotenen Druckschriften unzüchtigen Charakters“.[5] Die Behörde, die nun reaktiviert wurde, führte die abgekürzte Bezeichnung „Z.g.P.“ (Zentralstelle gegen Pornographie), fand – wie wir später sehen werden – nach 1933 ein reiches Betätigungsfeld und konnte u.a. auf Verdacht unzüchtigen Schrifttums hin Hausdurchsuchungen durchführen.
Parallel zu dieser Entwicklung in Österreich wurde der „Kampf gegen Schmutz und Schund“ im Deutschen Reich, von Hitler und Göring angeregt, energisch vorangetrieben. Im Deutschen Reich war das erste Ergebnis des Göringschen Vorstoßes die am 7. März 1933 dekretierte Aktivierung der „Deutschen Zentralpolizeistelle zur Bekämpfung unzüchtiger Bilder, Schriften und Inserate“ beim Polizeipräsidenten in Berlin. Auch hier also eine inhaltliche und zeitliche Parallele zwischen den beiden Ländern.
Die politische Flucht des autoritären Regimes nach vorne wurde in einem Bundesgesetzblatt, das am 31. Jänner 1935 ausgegeben wurde, neuerdings evident. Denn das Bundesgesetzblatt Nr. 33/1935 war auf die „Bekämpfung staatsfeindlicher Druckwerke“ aus. Es muß noch hinzugefügt werden, daß diesem Gesetz, dessen „verfassungsmäßiges Zustandekommen“ wie üblich noch „beurkundet“ werden mußte, weitere einschränkende Maßnahmen vorausgegangen waren. Am 14. März 1934 z.B. wurde die Verbreitung sämtlicher reichsdeutscher Zeitungen in Österreich verboten. Anfang 1934 war eine Verordnung veröffentlicht worden, die den Straßenverkauf von Zeitungen einschränkte.
Dieses Gesetz zur Bekämpfung „staatsfeindlicher Druckwerke“ war zwar ein neues, aber sichtlich vollkommen überflüssiges Gesetz dessen Sinn lediglich in der Verschärfung bestehender Strafandrohungen lag! Die Grundlage hiefür bildeten drei Paragraphen des bestehenden Strafgesetzes (§§ 300, 305, 308). Und eben nur nach diesen Paragraphen – und nicht nach dem neuen Gesetz – wurde in der Folge judiziert.
1. Gesetzliche Grundlage der Buchverbote[6]
Verbote von Druckschriften im Ständestaat Österreich wurden einerseits auf Grund von neu „beschlossenen“ Gesetzen und erlassenen Verordnungen der Bundesregierung (die bloß scheinlegal waren), andererseits auf Grund des Strafgesetzes ausgesprochen. Die Verbote von Büchern beruhten in der Praxis im Grunde genommen auf vier verschiedenen „rechtlichen“ Grundlagen, von denen wir bereits zweien begegnet sind („politische Propagandaliteratur“):
1. Verbot der NSDAP in Österreich sowie von Druckschriften, die eine Propaganda für diese Partei darstellten (BGBl. Nr. 240/1933 vom 19. 6. 1933): „Liste 1“
2. Verbot der Kommunistischen Partei Österreichs (BGBl. Nr. 200/1933) und Verbot der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (BGBl. Nr. 78/1934) sowie Druckschriften, die eine Propaganda für diese Parteien darstellten: „Liste 2“
3. Verbot auf Grund eines Antrags der Staatsanwaltschaft und des folgenden richterlichen (gerichtlichen) Beschlusses im Landesgericht für Strafsachen Wien I nach Bestimmungen des Strafgesetzes: „Liste 3“
Verzeichnisse dieser Verbote wurden dann jeweils als „Liste 1“, „Liste 2“ und „Liste 3“ bezeichnet. Da das Verbotswesen in Österreich zentral gelenkt wurde, wurden bei der Bundes-Polizeidirektion in Wien (Preß-Bureau) im Einvernehmen mit der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit im Bundeskanzleramt und dem Landesgericht für Strafsachen Wien diese Verzeichnisse in der Regel monatlich und im Falle der Listen 1 und 2 mit jeweils laufenden Nummern zusammengestellt und auf Grund eines vorgegebenen Verteilerschlüssels an zuständige Dienststellen und öffentliche Institutionen verbreitet. Insofern waren sie nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Während die Verbreitungsbeschränkungen von bestimmten periodischen Druckschriften, also Zeitungen und Zeitschriften, damals wie heute im amtlichen Teil der Wiener Zeitung verlautbart wurden, wurden Verbreitungsbeschränkungen für Bücher und Broschüren zusätzlich zu den Zeitungen im offiziellen Organ des Vereins der österreichischen Buch-, Kunst- und Musikalienhändler, dem Anzeiger, laufend und vollinhaltlich abgedruckt. Diese Publikation wurde nur an Mitglieder, also Sortimentsbuchhändler, Verleger usw. versandt. Gelegentlich hat der Verein Rundschreiben an Mitglieder ausgesandt, in denen vor dem Vertrieb bzw. Zurschaustellen der folgenden Liste von Druckwerken nachdrücklich gewarnt wurde. Unbeschadet der allfälligen Bestrafung könne – so heißt es in der Warnung – der Vertrieb „Ohne vorhergehende Warnung den Entzug der Konzession zur Folge haben“.[7]
4. dem Verbot auf Grundlage des Gesetzes zum Schutz des Ansehens Österreichs (auch: „Traditionsgesetz“) nach BGBl. Nr. 214/1935.
2. Die einzelnen Listen
a) Liste 1
Diese Liste umfaßte jene Bücher und sonstigen Druckwerke, deren Verbreitung eine Propaganda für die NSDAP darstellte. Sie enthielt ausschließlich Druckwerke ausländischer Verlage und Autoren. Eine Übersicht über verbotene Werke zwischen 1934, dem ersten Jahr, in dem die Liste veröffentlicht wurde, und 1938 ergibt folgendes Bild: 1934: 257 Titel; 1935. 151 Titel; 1936: 252 Titel; 1937: 109 Titel; 1938: 28 Titel.
Diese Liste 1 bildete die weitaus zahlreichste Gruppe der in Österreich verbotenen Bücher. In der Praxis wurde weniger systematisch gegen die NS-Literatur vorgegangen als ad hoc. Nach einer Darstellung des Bundespressedienstes, der auch in Verbotsfragen ein Wort zu reden hatte, wurde folgende Praxis geübt: „Die Zollämter übermitteln Bücher, die inkriminierten Stellen durch Einlegen von Papierstreifen kenntlich gemacht. Es erfolgt dann durch die Polizeidirektion selbständig, oder im Einvernehmen mit den maßgeblichen Stellen des Bundeskanzleramtes entweder eine Freigabe oder die Erlassung eines Verbreitungsverbotes. Das Exemplar wird zurückgestellt und bei Verhängung eines Verbreitungsverbotes die gesamte Sendung mit dem Belegexemplar wieder ins Ausland zurückgeschickt, mit der Buchhandel keinerlei Schädigung erleidet. Es wäre zu bemerken, daß die Handhabung der Verbreitungsverbote sehr vorsichtig geschah, (…)“.[8] Wie bereits erwähnt, herrschte Unklarheit darüber, nach welchen konkreten Kriterien Druckwerke als „politisch“ klassifiziert werden sollten.[9]
Ein Bruchteil der oben zahlenmäßig angeführten NS-Schriften wurde – gegenteiligen Behauptungen zum Trotz – anläßlich einer Sitzung des Unterausschusses für Buchfragen des Ausschusses für die kulturellen Beziehungen zwischen Österreich und Deutschland in der Zeit vom 21. bis 24. Juli 1937 in Wien wieder zur Verbreitung in Österreich unter gewissen Bedingungen zugelassen.[10] Auf diese Frage gehen wir noch später ausführlich ein.
b) Liste 2
Diese Gruppe umfaßte jene Bücher und sonstigen Druckwerke, deren Verbreitung eine Propaganda für die verbotene Kommunistische und Sozialdemokratische Partei Österreichs darstellte. Mit Ausnahme von einer Handvoll Schriften, die im Verlag der Wiener Volksbuchhandlung erschienen waren, lassen sich Verbote von Druckwerken österreichischer Verlage und Autoren über eine Zeitspanne von etwa 5 Jahren an den Fingern einer Hand zählen. Wie die Liste 1 führte auch die Liste 2 mit kommunistischen und marxistischer Literatur expressis verbis keine belletristische Literatur an, sieht man etwa von Grenzfällen ab, wie dem 1935 im Wiener Gsur & Co. Verlag erschienenen Roman Unsere Töchter die Nazinen von Hermynia Zur Mühlen, der sowohl wegen einer Förderung der verbotenen Sozialdemokratischen als auch der verbotenen Kommunistischen Partei verboten wurde (Liste 2, 13. Februar 1936).[11] Dieses Werk blieb praktisch das einzige in einem österreichischen Verlag erschienene Buch, das in dieser Liste aufscheint. Die Versuche, durch die Heranziehung von anderen belletristischen Werken und deren Autoren sozusagen als „pars pro toto“ eine Hatz der „Klerikofaschisten“ auf belletristische Literatur zu konstruieren, halten einer Überprüfung nicht stand. Fazit einer Überprüfung der „Liste 2“: Von Verbreitungsbeschränkungen waren vorwiegend, wenn nicht ausschließlich ausländische Autoren und Verlage betroffen. Ein Grund dafür ist freilich darin zu sehen, daß „marxistische“ Autoren und Werke, die sich z.B. mit den Februar-Ereignissen 1934 befaßten oder gegen das Dollfuß/Schuschnigg-Regime gerichtet waren, im benachbarten Ausland gedruckt wurden.
Zahlenmäßig nach Jahren gegliedert, sieht die Entwicklung folgendermaßen aus: 1934: 52 Titel; 1935: 108 Titel; 1936: 87 Titel; 1937: 92 Titel; 1938: 4 Titel.
Es ist ein Charakteristikum von Verbotslisten und Indices allgemein, daß sie Inkongruenzen und Eigentümlichkeiten aufweisen. So auch die „Liste 2“. Nach der Liste 2 vom 13. Februar 1936 wurde Der unsterbliche Österreicher von Anton Kuh, erschienen 1931 im Münchner Verlag Knorr & Hirth, nach der „Demonstrationsverordnung“, BGBl. Nr. 185/1933 verboten! Diese ebenfalls auf der Basis des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes vom 24. Juli 1917, BGBl. Nr. 307 zustandegekommene Verordnung wurde „zur Abwehr der mit einer Störung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit verbundenen wirtschaftlichen Gefahren verordnet“. Da heißt es im § 1: „Wer eine Verwaltungsübertretung als politische Demonstration begeht, wird bestraft.“ Der Zusammenhang zwischen dem Buch von Anton Kuh und der Verordnung ist nicht ganz ersichtlich.
Auch das 1935 im Amsterdamer Querido Verlag erschienene Werk Hitler von Rudolf Olden wurde nach der Liste 2 vom 5. Jänner 1936 ebenfalls nach der Demonstrationsverordnung verboten, um in der folgenden Liste vom 13. Februar wieder freigegeben zu werden. Im November 1937 wurde das Buch allerdings offenbar als Zugeständnis den Deutschen gegenüber wieder verboten. Oldens Buch wurde von den Deutschen als „Hetzliteratur“ eingestuft und anläßlich der Verhandlungen zwischen beiden Ländern im Juli 1937 in Wien auf die reichsdeutsche Wunschliste von Büchern gestellt, für die sie sich in Österreich ein Verbreitungsverbot wünschten. Eigenartig an dieser Verbotspolitik ist, daß man sich der publizistischen Waffen im Kampf gegen den Nationalsozialismus selber beraubte, indem man solche Schriften sogar vor dem Juli-Abkommen verbot.
c) Liste 3
Eine Durchsicht der Liste 3 zwischen 1934 und 1938 verstärkt den Eindruck, daß nicht-politische Literatur im österreichischen Ständestaat nicht „gesäubert“ wurde wie im Deutschen Reich; schöne Literatur im engeren Sinne blieb eher ungeschoren. Dafür aber haben die Österreicher in bezug auf die Bekämpfung des „unzüchtigen Schrifttums“ mit den Deutschen durchaus Schritt gehalten. Von Verbreitungsbeschränkungen sind wiederum bis auf wenige Ausnahmen ausländische Autoren und Verlage betroffen.[12] In den langen Listen über jene Bücher und sonstigen Druckwerke, die beschlagnahmt wurden, ergeben sich einige thematische Schwerpunkte, die sich nur schwer unter „systemkritisch“ subsumieren lassen: Werke erotischen oder sexualwissenschaftlichen Inhalts machen den größten Anteil aus, gefolgt von Werken, deren Inhalt gegen die Institution der amtlichen Kirche gerichtet war, sowie Werke antisemitischen Inhalts. Die Druckwerke der Liste 3 wurden durchwegs über richterlichen Beschluß beschlagnahmt und nach einer Strafverhandlung vor einem Schöffengericht nach Bestimmungen des Strafgesetzes aus dem Verkehr gezogen. Und die Tatsache, daß Beschlüsse der ordentlichen österreichischen Gerichte vorlagen, machte – wie wir später sehen werden – die Aufhebung dieser Bücherverbote, wie sie im Gefolge der „Normalisierung“ der kulturellen Beziehungen zwischen Österreich und Deutschland nach dem „Juli-Abkommen“ 1936 von deutscher Seite angestrebt wurde, fast unmöglich.
Auf Grund der Liste 3 lassen sich folgende Verbotskriterien feststellen, wobei hier wiederum die Bezeichnung „systemkritische Schriften“ dadurch problematisch wird, daß das Strafgesetz kein Produkt des Ständestaats war:
§ 65a. Störung der öffentlichen Ruhe in bezug auf die Republik Österreich.
§ 122a. Verbrechen der Religionsstörung. (Gotteslästerung durch Reden, Handlungen, in Druckwerken oder verbreiteten Schriften). Reden, Druckwerke
§ 122b. Öffentliche Verachtung der Religion durch Handlungen, oder verbreitete Schriften.
§ 300. Herabwürdigung der Verfügungen der Behörden und Aufwiegelung gegen Staats- und Gemeindebehörden, gegen einzelne Organe der Regierung, gegen Zeugen oder Sachverständige.
§ 302. Aufreizung zu Feindseligkeiten gegen Nationalitäten, Religionsgenossenschaften, Körperschaften u. dgl.
§ 303. Beleidigung einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft.
§ 305. Öffentliche Herabwürdigung der Einrichtungen der Ehe, der Familie, des Eigentums, oder Gutheißung von ungesetzlichen oder unsittlichen Handlungen.
§ 491. Ehrenbeleidigung, öffentliche Schmähung, Verspottung.
§ 495. (1) Die in den §§ 487-494 mit Strafe bedrohten Ehrenbeleidigungen werden von Amts wegen verfolgt, wenn sie gegen den Bundespräsidenten, gegen den Nationalrat, den Bundesrat, die Bundesversammlung oder einen Landtag, gegen das Heer, gegen eine öffentliche Behörde oder gegen eine selbständige Abteilung des Heeres gerichtet sind.
(Vgl. Traditionsgesetz bzw. BGBl. Nr. 41 vom 7. März 1933 und BGBl. Nr. 120 vom 10. April 1933, S 6, das denselben Tatbestand beinhaltet: „öffentliche Beleidigung der Bundesregierung, einer Landesregierung, einer ausländischen Regierung, von Mitgliedern dieser Regierung, eines Staatsoberhauptes“ usw.).
§ 516. Gröbliches und öffentliches Ärgernis verursachen – die Verletzung der Sittlichkeit oder Schamhaftigkeit.
Das zahlenmäßig größte Kontingent der „Liste 3“ betraf, wie erwähnt, Werke, die wegen des Tatbestandes der Pornographie (§ 516) Gegenstand einer gerichtlichen Verhandlung wurden. Unter den 120 Titeln der Liste der 1934 gerichtlich beschlagnahmten Werken finden sich z.B. nicht weniger als 55 solche Fälle. Einige Beispiele aus dieser Sparte seien hier angeführt: Liebesfreuden in Afrika, Die erotische Ehe und ehelose Erotik, Männer zu verkaufen, Hochschule der Liebeskunst, Das skandalöse Ehepaar.
Das zweitgrößte Kontingent der „Liste 3“ zwischen 1934 und 1938 betraf Schriften, die gegen die (katholische) Kirche in Österreich gerichtet waren. Einige Beispiele sind: Die katholische Kirche als Gefahr für den Staat oder die Kirche segnet den Eidbruch, die u.a. nach § 122b St. G. verboten wurden (Beschlagnahmte Bücher von 1936. Ausgegeben am 18. Jänner 1937 in Wien).
Ein Titel auf dieser Liste führte zur irrigen Annahme, hier sei ein kleriko-faschistischer Griff nach den Schriften von Karl Kraus geschehen. So wurde – geht man die Liste durch – Die Fackel nach dem Beschluß des Landesgerichts für Strafsachen Wien 1 vom 12.12.1936, Zl. 26e Vr 10.531/36 verboten – oder vielleicht nicht? Zumal Kraus die Bezeichnung „Die Fackel“ nicht gepachtet hatte, stellt sich heraus, wenn man den Akt der Gerichtsverhandlung ansieht, daß der Fall mit Kraus überhaupt nichts zu tun hat. Vielmehr handelt es sich um eine vom Landesgericht Leoben in der Steiermark wegen „Religionsstörung“ konfiszierte Druckschrift der Zeugen Jehovas, die an das Landesgericht in Wien weitergeleitet wurde.[13] Die Nennung der Broschüre Die Fackel in der Liste der verbotenen Druckschriften in der Folge Nr. 6, 1937, S. 35 des Anzeigers stiftete auch unter Zeitgenossen einige Verwirrung: In der Folge Nr. 7, S. 43 wurde darauf hingewiesen, daß die genannte Broschüre „nicht mit der in Wien erscheinenden Zeitschrift ‚Die Fackel’ identisch“ sei.
Von den wenigen Titeln aus dem Bereich der „schönen Literatur“, die in den Listen verzeichnet sind, seien hier einige Beispiele genannt: Kurt Tucholsky, Lerne lachen ohne zu weinen (nach § 303 St. G.), Bertolt Brecht, Lieder, Gedichte, Chöre (nach §§ 303, 305 St. G.), Egon Erwin Kisch, Geschichten aus 7 Ghettos (nach § 303 St. G.), Claire Goll, Ein Mensch ertrinkt. Roman (nach § 516 St. G.), Walter Mehring, und Euch zum Trotz. Chansons, Balladen, Legenden (nach § 303 St. G.).
Um die Vorgangsweise bei den gerichtlichen Beschlagnahmungen zu verdeutlichen, sei ein Beispiel angeführt: Im Jahre 1932 erschien im Wiener Zinnen-Verlag, einem Strohmannunternehmen, hinter dem die Geschäftsführer des inzwischen etwas berüchtigt gewordenen Verlags für Kulturforschung Amonesta & Co. standen, das Werk Notizbuch des Provinzschriftstellers Oskar Maria Graf. Die Auflage betrug 4.000 Exemplare. Am 4. Juni 1937[14] stellte der Staatsanwalt beim Landesgericht für Strafsachen Wien I einen doppelten Antrag: einerseits auf polizeiliche Beschlagnahme des Werks gemäß § 38 Pr. G. (Beschlagnahme eines Druckwerkes wegen eines als strafbar bezeichneten Inhaltes), „weil sein Inhalt in den Stellen (…) den Tatbestand des Vergehens nach § 303 St.G. zu begründen geeignet ist (…)“, andererseits auf die Einleitung einer Voruntersuchung gegen Oskar Maria Graf wegen Vergehens nach § 303 St.G.
Die Gerichtliche Preßpolizei meldete am folgenden Tag mit Schriftstück G.P.P. 2356/37 die erfolgte Beschlagnahme von zwei (2) Exemplaren des Werkes im Zinnen-Verlag, Wien I., Kohlmarkt No. 7. „Ein Beschlagnahmebeschluß für den Zinnen Verlag wurde Dr. Gustav Ullmann übergeben.“ Am 27. Oktober 1937 kam es unter Ausschluß der Öffentlichkeit zur Hauptverhandlung. Das Gericht stimmte dem Antrag des Staatsanwalts zu, das Buch wegen Vergehens nach § 303 St. G. für verfallen zu erklären. Im Urteil heißt es u.a., die inkriminierte Stelle
bildet eine Verspottung und Herabsetzung der Lehren der katholischen Kirche. Es wird in ironischer Weise zum Ausdrucke gebracht, daß das Auswendiglernen des Kathechismus zur natürlichen Folge habe, daß man nichts glaube, es wird gesagt, daß, wer katholisch sei, schon darum nichts glauben könne, weil er gewissermaßen den Unglauben an alles, was ist, schon mit auf die Welt bekomme.
Der offensichtlich nicht geladene Angeklagte, der Zinnen-Verlag, wurde zur Zahlung der Verfahrenskosten in der Höhe von S 100 verurteilt. Vom Ergebnis der Voruntersuchung gegen Oskar Maria Graf berichtet der Gerichtsakt allerdings nicht.
d) Schutz des Staates
Der Schutz des Staates bildete die vierte Grundlage, auf der Verbote in Österreich ausgesprochen wurden. Es läßt sich, was Entschiedenheit und Ausmaß der Mittel betrifft, zwischen dem 1933 im Deutschen Reich begonnenen Kampf „wider den undeutschen Geist“ und Parallelerscheinungen im Ständestaat Österreich trotz der in manchen Betrieben ähnlichen staatsideologischen Grundlage kein legitimer Vergleich herstellen. Im Frühsommer 1935 zum Beispiel beschloß die österreichische Bundesregierung nach interministeriellen Beratungen ein „Bundesgesetz zum Schutze des Ansehens Österreichs“ (BGBl. 1935, Stück 60, Nr. 214, ausgegeben am 5.6.1935). Auf den ersten Blick mag dieses neue legistische Werk überflüssig erschienen sein, weil es bereits ähnliche zu Gebote stehende gesetzliche Mittel gab. Der erste aufschlußreiche Paragraph hatte aber folgenden Wortlaut:
§ 1. Enthält ein Druckwerk über Begebenheiten aus der Geschichte Österreichs Behauptungen oder bildliche Darstellungen, die sich als Beschimpfung, Verspottung oder wegen ihrer Wahrheitswidrigkeit als Schmähung Österreichs darstellen, oder eine Verunglimpfung des Andenkens einer verstorbenen Person, die wegen ihrer Verdienste um Österreich berühmt ist, so kann das Bundeskanzleramt die Verbreitung dieses Druckwerkes verbieten. Wird eine Nummer eines Lieferungswerkes oder einer Zeitung verboten und ist anzunehmen, daß auch weitere Nummern des Druckwerkes einen solchen Inhalt haben werden, so kann auch die Verbreitung noch nicht erschienenen Nummern des Lieferungswerkes oder der Zeitung untersagt werden, deren Inhalt mit der das Verbot begründenden Veröffentlichung im Zusammenhang steht.
Das Verbot ist in der Wiener Zeitung kundzumachen.
§ 2. Übertretungen (…) werden mit Geld bis zu 5.000 Schilling oder mit Arrest bis zu drei Monaten bestraft;
Ausgangspunkt bei diesem Gesetz, das den autoritär regierenden Staat verstärkt schützen sollte, war der Gedanke, daß die presserechtlichen Bestimmungen hauptsächlich auf den Ehrenschutz von lebenden Personen abgestellt seien. Es sei daher notwendig, den Schutz auf verstorbene Persönlichkeiten, die sich um Österreich verdient gemacht hatten, auszudehnen. Auch dieses Gesetzeswerk war völlig überflüssig, wenn man, wie es den Anschein hat, den ermordeten „Heldenkanzler“ Dollfuß vor „übler Nachrede“ schützen wollte. Ebensogut konnte man das Strafgesetz heranziehen und nach § 495, Abs. 3 strafgerichtliche Verfolgung begehren.
Einblick in die entsprechenden Unterlagen des BM für Unterricht, das bei der Formulierung des Textes Mitspracherecht hatte,[15] gibt Aufschluß über Motivation, Zweck und Handhabung des Gesetzes. Am 7. Juni 1935 richtete der Staatssekretär im Bundeskanzleramt (Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit), Hans von Hammerstein, ein Rundschreiben an sämtliche Sicherheitsdirektionen und Landes- und Bundespolizeibehörden in Österreich, um das Gesetz näher zu begründen und zu erläutern. Die bestehenden Gesetze, führte er aus, insbesondere die Bestimmungen des Straf- und Preßgesetzes, böten „keine ausreichende Handhabe zur Verhinderung der Verbreitung derartiger Druckwerke“. „Diese empfindliche Lücke“ werde nun durch das neue Gesetz „ausgefüllt“. Hammerstein betonte, daß das neue Gesetz, „da es nur eine Lücke des bestehenden Rechtes auszufüllen bestimmt ist, nur dann Anwendung finden soll,[16] wenn nicht schon auf Grund der Bestimmungen des Strafgesetzes und Preßgesetzes der angestrebte Zweck der Verhinderung der Verbreitung des Druckwerkes erwirkt werden kann, (…)“. „Nach dem Gesagten“, fährt Hammerstein fort, „wird sich für die Unterbehörden nur in vereinzelten Fällen ein Anlaß geben, die Erklärung des Verbotes nach dem neuen Gesetz zu beantragen. Im Falle von vor längerer Zeit erschienenen Druckwerken sei überhaupt zu überlegen, ob ein Vorgehen notwendig“ sei „und nicht etwa wegen seiner unerwünschten Nebenwirkungen unzweckmäßig ist“. Erörterungen über das Gesetz in der Tagespresse seien, so Hammerstein, unerwünscht.[17]
Es war also von vornherein klar, daß das Bundesgesetz Nr. 214/1935 nicht sehr oft zur Anwendung kommen würde, und die Voraussage stimmte genau. Hier fällt auf, daß es in der Praxis in erster Linie auf Bücher reichsdeutscher Herkunft Anwendung fand, obgleich das Gesetz sowohl die in Österreich als auch die im Ausland hergestellten Werke betraf. Nach den Buchstaben des Gesetzes gab es aber Ausnahmen bezüglich dessen, was das Ansehen Österreichs schädigte. Der § 5, der in letzter Minute auf Drängen von Beamten im Unterrichtsministerium mit aufgenommen wurde, sah vor, daß das Gesetz „auf Veröffentlichungen wissenschaftlichen Charakters“ nicht angewendet werden sollte. Über die „Wissenschaftlichkeit“ sollte letztlich das Bundeskanzleramt unter Heranziehung des BM für Unterricht entscheiden. Aber der eigentliche Zweck dieses neuen Gesetzes, dessen Bestimmungen genausogut den Tatbestand „staatsfeindliches Druckwerk“ miteinschloß und für das bereits ein Gesetz vorhanden war, geht aus den Berichten für das geplante Gesetz eindeutig hervor. Und in diesem Fall kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es sich in gewisser Hinsicht um eine Art „lex Dollfuß“ gehandelt hat. Auch nach Verlautbarung dieses Gesetzes wurden Sortimenter und Verleger nicht im unklaren gelassen: Am 19. Juni 1935 machte der Anzeiger Vereinsmitglieder auf das neue Gesetz aufmerksam und druckte die wesentlichen Bestimmungen ab mit dem Hinweis:
Dieses Verbot wird von der Sicherheitsbehörde sehr strenge gehandhabt. Es ist nicht möglich, nach diesem Gesetz verbotene Bücher an die Verleger zurückzusenden. Auch empfiehlt es sich, die vorhandenen Bestände der Sicherheitsbehörde abzuliefern. (76. Jg., Nr. 15/1935)
Der Besitz eines solchen Druckwerks durch eine Privatperson war „an sich“ nicht strafbar (Hammerstein), geahndet wurde lediglich die anfällig versuchte Verbreitung!
e) Miszelle
Man könnte schließlich einwenden, daß die Beamten der autoritären Regierung in Österreich zwischen 1934 und 1938 vielleicht auch Gelegenheit gehabt hätten, etwas Positives zu leisten und das „hochwertige heimische Schrifttum“ zu fördern, wenn sie nicht so viel Zeit bei der Abfassung von neuen Verordnungen und dgl. aufgewendet hätten. Was aber aus solchen zaghaften Förderungsversuchen herausgekommen ist, kann lediglich als Anzeichen für die Zementierung der herrschenden literarischen Cliquenwirtschaft, die so gut wie unverändert nach 1945 weiter bestand, gewertet werden.
Am 20. August 1937 trat nämlich ein neues Gesetz in Kraft, das die Formel des perfekten Polizeistaates enthielt. Mit dem Bundesgesetz zum Schutze der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit (Ordnungsschutzgesetz), BGBl. Nr. 282/1937 wurden zum wiederholten Mal sowohl Tatbestände aus dem bestehenden Preß- und Strafgesetz als auch aus Verordnungen und scheinlegalen Gesetzen der Bundesregierung seit 1933 gesammelt. Man bekommt bald den Eindruck von einem „digest“. Im Grunde genommen wurde durch dieses Bundesgesetz eine Reihe bislang in Kraft gewesener Vorschriften zum Schutze der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit aufgehoben. Das „neue“ Gesetz (§ 4: Beleidigung von Amtsträgern) kam noch im Jahre 1937 zwar vereinzelt zur Anwendung, judiziert wurde aber nach wie vor nach dem geltenden Strafgesetz.
Anmerkungen
[1] GERHARD RENNER hat eine umfangreiche Analyse zu dieser Frage geliefert. In: G.R., Österreichische Schriftsteller und der Nationalsozialismus: Der Bund der deutschen Schriftsteller Österreichs und der Aufbau der Reichsschrifttumskammer in der Ostmark. phil. Diss. Wien 1981, S. 107-135.
[2] Kultur und Staat. Tatsachen und Probleme. In: Volkswohl, 26. Jg., März 1935, S. 153-157; hier S. 153.
[3] Vgl. die Beilage der Volksstimme „Wochenend Panorama“, „Als unsere Partei verboten wurde“, 22.5.1983.
[4] Ähnliche Sorgen hatte drei Jahre später auch noch die „Bürgerschaft“ in Wien, als sie praktisch eigens dazu zusammentraf, um ein neues Gesetz im Namen der Sittlichkeit und des Volkswohls zu beschließen. Einziger Inhalt: Verbot der Aufstellung von Präservativautomaten in öffentlich zugänglichen Orten, woraus eine Debatte darüber entstand, was man unter dem Wort „Ort“ zu verstehen habe.
[5] Amtsblatt der k. k. Polizeidirektion Wien, 1912, S. 25. (Polizeierlaß, Pr. 2173 vom 20. August 1912.)
[6] Alle hier im folgenden zitierten Verbotslisten sind in einem Schuber gesammelt in der WrStLb aufbewahrt worden (Signatur: C 84.972). PETER MALINA behandelte neulich das Thema „Bücherverbote in Österreich“ im bibliothekarischen Bereich (P.M.: Bücherverbote in Österreich 1933- 1938. Zur Kontrolle systemverdächtiger Literatur am Beispiel der Universitätsbibliothek Wien. In: Zeitgeschichte (Wien), 10. Jahr, Heft 8, Mai 1983, S. 311-335). Die wenigen Beispiele für verbotene belletristische Literatur werden nur erwähnt (S. 329), aber Malina bietet einen guten Überblick über die, wie er sie nennt, „administrativ-legistische(n) Maßnahmen zur Behandlung systemkritischer Literatur in Österreich 1933-1938“ (S. 314 ff.). Malina ist zuzustimmen, wenn er zeigen will, „wie zufällig die Zensur in der Praxis vorging“ (S. 329), wenn er aber meint, seine Beispiele seien Schriften, die von den Machthabern als „systemkritisch“ klassifiziert werden konnten, so wird der Begriff „systemkritisch“ sehr weit ausgelegt. Außerdem meint er, die Beispiele aus dem Bereich der Dichtung „nur auswahlsweise“ anzuführen. Vielmehr handelt es sich um eine ziemlich vollständige Liste (11 Titel)! Krasser Vereinfachung und grober Kurzschlüsse macht sich JOSEF HASLINGER in seinem Vortrag/Aufsatz „Einleitender Bericht über einen besiegten Autor“ (Wespennest. zeitschrift für brauchbare texte und bilder nr. 52, „Literatur und Macht“, 1983, S. 2-11) schuldig. In diesem Digest der Forschungsergebnisse anderer (ohne entsprechende Quellenangabe) geht Haslinger auf die Verbotslisten, die er „Teile“ nennt, ein. Seine Ausführungen zum Thema Verbote sind derart durch oberflächliche Kenntnis der Materie geprägt, daß er wesentlich zur Legendenbildung beiträgt. Eine Auseinandersetzung mit dieser unverdauten Zusammenstoppelung wäre an sich überflüssig, wenn sie nicht im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung in Wien im Mai 1983 ein breiteres Publikum erreicht hätten. Sieht man von Druckfehlern ab (die NSDAP wird am 19.6.1944 verboten), werden einige der vielen hundert NS-Schriften, die seit 1933 in Österreich verboten wurden, im Sommer 1937 unter bestimmten Bedingungen wieder zur Verbreitung zugelassen. Haslinger nennt diese Zeitspanne „bald“. Daß der Wunsch der Vater des Gedankens ist, zeigt Haslinger, indem er apodiktisch feststellt, die Liste der wieder zugelassenen NS-Schriften sei „die längste Buchliste, die die Bundespolizeidirektion in diesen Jahren erstellte“ (S. 2). So etwas kann nur einer behaupten, der die Listen nie angeschaut hat. Genauso oberflächlich und falsch ist der nächste Abschnitt von Haslinger, in dem es heißt: „Der zweite Teil (!) beschränkte sich nicht auf ausgesprochen sozialistische und kommunistische Literatur, wie die Schriften von Marx, Engels, Lenin, Trotzki, Otto Bauer, Max Adler, Karl Kautsky, Georg Lukacs, Ernst Bloch, Walter Mehring, Bela Kuhn [sic!] und Julius Deutsch, es wurden immer stärker auch belletristische Schriften aufgenommen.“ Die Phantasie geht aber eindeutig zu weit, wenn man einfach Namen hinschleudert, in der Hoffnung, da werde jemand durch Klang und Zahl beeindruckt. Das angesprochene Verbot gegen Walter Mehring hat mit „ausgesprochen sozialistischer und kommunistischer Literatur“ nicht das geringste zu tun, es sei denn, Haslinger möchte den Zensoren auch noch Sippenhaftung anhängen…. und Euch zum Trotz wurde 1934 wegen Herabsetzung und Verspottung der Lehren und Einrichtungen einer im Staate gesetzlich anerkannten Kirche gerichtlich verboten. Und daß „immer stärker“ belletristische Schriften aufgenommen wurden, entbehrt jeder Grundlage. Haslinger versucht, seinen Beweisnotstand und seine oberflächlichen Kenntnisse der Materie durch die Nennung möglichst vieler Namen zu kaschieren, ohne auf die Gründe für diese Verbote einzugehen. Den Legendenteig bäckt Haslinger fertig, indem er abschließend bemerkt: „Nimmt man noch die große Säuberung der Arbeiterbüchereien, die damals die größten Volksbüchereien Europas waren, hinzu, sieht man, welche Vorarbeit die österreichische Regierung für die nationalsozialistische Kulturpolitik geleistet hat“ (S. 2). Sollte dieser Aufsatz ein zweites Mal publiziert werden, müßte er ein halbes Dutzend Namen zum Verfasser haben, und ob Haslinger darunter zu finden wäre, wage ich zu bezweifeln. Besonders schlimm ist die Tatsache, daß solche „Arbeiten“ eine Multiplikatorwirkung haben. Insofern ist ein Ende der Legendenbildung nicht abzusehen. Um Mißverständnisse zu vermeiden: es geht hier nicht darum, Verbote zu billigen oder zu verharmlosen, sondern um genaue Recherchen und die wahrheitsgemäße Wiedergabe von Fakten.
[7] Rundschreiben des Vereins vom 21.3.1934. Orig. im Besitz des Verf.
[8] ÖSta, HHSta, N.P.A., Kt. 123, BKA 42.468-13/1936; liegt bei BKA 41.296-13/1937.
[9] MALINA, zit. Anm. 6, S. 317 ff. gibt einen guten Einblick in diese Problematik.
[10] Die eine Zeitlang einzige Erwähnung dieser Verhandlungen findet sich bei ALFRED PFOSER, Literatur und Austromarxismus. Wien: Löcker 1980, S. 220.
[11] Zur Vorgeschichte dieses Verbots in Österreich siehe den Abschnitt über den Verlag Gsur & CO. sowie MURRAY G. HALL, Walter Mehring. „Biographie als Legende“. in: Walter Mehring, text + kritik, Heft 78, April 1983, S. 20-35. Nach der „Liste 1 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ (Stand vom Oktober 1935) der RSK Berlin waren sämtliche Werke Zur Mühlens verboten.
[12] Ein Beispiel: In der Liste 3 der gerichtlich beschlagnahmten Druckwerke seit 1.1.1937 vom 9. Juni 1937 waren von 49 angeführten Werken 3 in einem österreichischen Verlag erschienen.
[13] ALFRED PFOSER, Zit. Anm. 10, S. 221: „Vor österreichischen, nicht-sozialistischen Autoren schreckte der Zensor ebenfalls nicht zurück. Karl Kraus’ Zeitschrift ‚Die Fackel’ wurde am 12.12.1936 auf die Liste der Polizei gesetzt; genau sechs Monate vorher war er gestorben.“ Die Bezeichnung „Liste der Polizei“ ist in diesem Fall irreführend. Der Verbotsakt ist im WrStLa deponiert. Pfoser hat diese Ansicht richtiggestellt in: Kraus-Hefte, Heft 20, Oktober 1981, S. 16.
[14] Die folgende Darstellung beruht auf dem Gerichtsakt, der im WrStLa deponiert ist. Landesgericht für Strafsachen Wien I, Oskar Maria Graf (1937), Strafsache wegen § 303 St.G., 26 Vr 4519/37.
[15] AVA, BMU, 24 Gesetze, 1935, Fasz. 4767.
[16] Hervorhebung im Original!
[17] AVA, BKA (Gendion), Zl. 336.115-G. D. 2/1935.
[18] HHSta, N.P.A., Karton 123, BKA 44.970-13/1937; Verbalnote des BKA (AA) an die Deutsche Gesandtschaft, Wien, im Jänner 1937.
[19] HHSta, N.P.A., Karton 134, BKA 44.437-13/1937.